Über die Einsamkeit und den Hass

Was Donald, Bibi, Herbert und Vladimir gemeinsam haben, von Stendhals Limonade in Mailand und Incels, Bösewichten allgemein und einer Themenverfehlung.


Alle konsequent durchgehaltene Einsamkeit endet in Verzweiflung und Verlassenheit, einfach weil man sich nicht selbst um den Hals fallen kann.

Hannah Arendt[i]

 

Für Anfang des Jahres hatte ich einen Text angekündigt. Es sollte um eine der einfachsten und dann doch krassesten Ideen gehen, die die Philosophie vor fast 100 Jahren hervorgebracht hat, nämlich die Idee von Hannah Arendt, dass Hass ziemlich selten ist.

Der Text ließ sich aber nicht so schreiben, wie er in meinem Kopf war. Mich an einer gewitzten Hypothese zur Herkunft des Übels zu schaffen zu machen, fühlte sich schlicht nicht richtig an. Das Übel war – ist! – nun ja schon mal da. Was jetzt vielleicht mehr interessiert, ist, wie mit ihm umzugehen wäre, im Handeln und im Denken – und nicht, aus welchem vermaledeiten Loch es entfleucht ist. Ich glaube, dass uns die augenblickliche Situation vor allem anderen dazu herausfordert, uns gedanklich neu zu orientieren. Ich glaube auch, dass die Ratlosigkeit, die derzeit weltweit vorherrscht, darauf zurückzuführen ist, dass wir die anthropologischen und die moralischen, allgemein: die philosophischen Voraussetzungen dieser neuen Situation noch nicht verstanden haben.

Was ich also vorlege, ist keine nach allen Seiten hin abgedichtete Hypothese mit treffsicheren Definitionen , sondern Miniaturen, Skizzen, Denk- und Fluchtwege. Denn Philosophie im abgesicherten Modus „bringt“ nichts. Was jetzt etwas „bringt“, ist alles, was in Bewegung versetzt: Verdachtsmomente, Intuitionen, auffällige Häufungen, Vermutungen, Spuren, insgesamt: Gelegenheiten für Denkanstöße (oder aber auch -abstöße).

Weil das, was ich schreibe, nicht linear ist, muss es auch nicht linear gelesen werden. Möglich ist z.B. auch diese Reihenfolge: 1 - 3 - 6 - 2 - 4 - 5.

 

Eins: Stendhal

Es ist ja extrem selten, dass man einen Blick darauf werfen kann, worüber Menschen in Kaffeehäusern nachdenken. Vielleicht ist es aber auch nicht immer schade drum. „Das einzige, das in diesem Leben der Mühe wert ist, ist das eigene Ich“, notiert der französische Schriftsteller Stendhal 1812 in einem Mailänder Café in einem Brief an einen Freund.[ii] „Das Gute an dieser Denkweise ist“, vermerkt er, „dass ein Rückzug aus Russland nicht mehr Bedeutung hat als ein Zug aus einem Glas Limonade.“[iii]

Mit dem Rückzug aus Russland ist das Ende des Feldzugs Napoleons gemeint, bei dem es zu unfassbarem Leid gekommen war. Aus Vilnius berichtete man, dass sich die hungernden und frierenden Soldaten an den Leichen ihrer Kameraden vergangen hätten. Die Lösung für Stendhal angesichts der Massaker, der Foltern und deer Plünderungen: Me-Time mit Limonade.

Auf den ersten Blick wirkt das bizarr, aber harmlos: ein schreibendes Ich, das sich nach einer der bis dahin schrecklichsten militärischen Katastrophen der Geschichte Europas mit Limonade zu trösten weiß. In Wirklichkeit ist das zu arglos gedacht, zumindest, wenn es nach Hannah Arendt geht. Wenn man nicht mehr glaubt, dass irgendetwas anderes außer das eigene Selbst zähle, wenn es nichts mehr gibt (oder zu geben scheint), auf das man sich beziehen kann, das außerhalb des eigenen Ichs von Wichtigkeit, von Wert ist, dann begänne, schreibt sie, „die Teufelei“ – und zumindest die Stendhal-Lektüre dürfte ihr recht geben.

In dem Tagebuch von Stendhal findet sich nämlich ein deutlich weniger harmlos scheinender Eintrag; eine praktische Anleitung zur Interaktion mit „ehrbaren“ Frauen – denn nur diese seien schwer ins Bett zu kriegen. Da gäbe es ein „ganz einfaches Mittel“. Man müsse der Frau nur „den linken Unterarm auf den Hals unter das Kinn legen, als wolle man sie ersticken“, steht da, und, wenn sie daraufhin versuche, mit der Hand dorthin zu fassen, wäre es ein Leichtes, „mit gestrecktem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das Glied ruhig in das Ding ein[zu]führen. Bei einigermaßen ruhigem Blut gelingt das unfehlbar.“[iv] Es ist schwer bis unmöglich, sich bei dieser Schilderung des Eindrucks zu erwehren, dass deerMann, der dies schrieb, mit Hass bestens vertraut gewesen sein muss.

Die Katastrophe, würde Hannah Arendt aber sagen, kann man schon an diesem Gedanken, dass es im Leben ausschließlich um das eigene Wohl gehen könne, ablesen. Wer in der Welt nur mehr sich selbst sehen kann, wer alle Ansprüche der anderen fahren hat lassen, für den/die werden die anderen überflüssig. Die Einsamkeit, die Kontaktlosigkeit, das sei „der Zustand, in dem alle anderen überflüssig geworden sind“, schreibt Arendt.[v] Überflüssig, das heißt im schlimmsten Fall: austilgbar, vernichtbar, vergewaltigbar. - Und das meint Hannah Arendt wirklich so.

Die Behauptung, der Hass sei ein seltenes Phänomen, riecht schon sehr streng nach wirklichkeitsfremder/m Romantiker:in. Sind wir denn nicht eigentlich alle eher vom Gegenteil überzeugt – dass das Problem ebengerade darin besteht, dass der Hass immer mehr wird (und nicht einmal vor dem Virtuellen Halt macht)? Und – als Österreicher:in muss man sich das ja fragen – grenzt es vielleicht nicht sogar fast an Beleidigung, wenn man wagt, jenen, die gegen Migrant:innen, Geflüchtete, Jüdinnen und Juden, Muslima und Muslime und LGTBIQ-Personen hetzen, ihren Hass abzusprechen?

Ist es also am Ende nicht der Hass, der die Wahlen gewinnt?

Sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt die frisch gebackene US-Bürgerin in New York in ihr Denktagebuch (es ist kein Brief), dass erst mit der Einsamkeit „die grundsätzliche Vernachlässigung der Pluralität der Menschen durch die abendländische Philosophie aktiv verderblich werden konnte“.[vi] Man hätte nämlich immer schon übersehen, dass Menschen viele sind – anders, immer eigen und jede:r unersetzlich – aber erst mit der Verfestigung des Gefühls der Einsamkeit  konnte es zur Katastrophe kommen.

Das klingt eigentlich fast tröstlich: dass es nicht der Hass sein soll, der die Wahlen gewinnt. Bei näherem Besehen ist es das aber nicht. Über die Einsamkeit nachzudenken ist ungleich aufwändiger als über den Hass. Einsamkeit ist nämlich etwas, das das Denken des sogenannten Abendlands wesentlich ausmacht. Es ist also schwierig, sie zu betrachten und ihr Wesen zu verstehen. Denn dafür müsste man zuvor auf Distanz zu ihr gegangen sein.

Um diese Distanz herzustellen, müsste die Philosophie Europas beginnen, sich ihre eigene Geschichte neu zu erzählen, denn die ist auch eine Geschichte der Einsamkeit und des Elitismus. Es gibt seit Platon (Sokrates‘ Schüler), eigentlich sogar schon seit Heraklit, die Unterscheidung zwischen den Vielen und den Wenigen, der Plebs und der Elite, den Dummen und den Klugen, die, weil sie klug sind, alleine bleiben müssen.Die Wahrheit zu sagen war zu bestimmten Zeiten nämlich eine ziemlich gefährliche Angelegenheit. Die Vorlesung der Hypathia von Alexandria zum Beispiel (um nicht immer den armen Sokrates zu bemühen) endete damit, dass ihre Gegner sie in Stücken durch die Stadt schliffen. Kein Wunder also, dass die Philosophierenden lieber unter sich blieben und auf die anderen schimpften: Der Stoiker Chrysipp vergleicht die Vielen mit Kot, dessen Geruch erst bemerkbar wird, wenn man ihn aufrührt. Heraklit nennt sie kurz und knapp einfach Idioten. Und Aristoteles spricht ihnen gar das Menschsein ab. (Aber das ist eine andere Geschichte.[vii]


Zwei: Rilke

Gesetzt den Fall, dass es stimmt, dass Einsamkeit eine ernstzunehmende Angelegenheit ist, dann braucht es nicht viel, um auf einer Rundreise durch die europäische Geistesgeschichte in gefährliche Fahrwasser zu geraten.

Für Hannah Arendt beginnt es eigentlich schon mit ersten Sätzen der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Denn wer die Einsamkeit glorifiziert, wie es Rilke tat (siehe ebd. erster Satz[viii]) und sie gemeinsam mit dem Schrecklichen zur Ursubstanz des Lebens erklärt (siehe dritter Satz), braucht den Hass nicht mehr. Mit Rilkes sorgfältigen Sektionen seiner unerwiderten Liebe hält man also nichts Geringeres als den Zaubertrank für jedes Faschoregime dieser Welt in der Hand. Wer einsam ist und glaubt, er/sie müsse es immer bleiben, für den/die können die anderen Menschen schlicht nichts mehr als Statuten sein. Sind die Anderen aber erst einmal überflüssig geworden, ihre Meinungen nichtig, dann fehlt nicht mehr viel, bis auch ihre Leben vernichtbar sind. So die Arendtsche These.

Ein krasser Gedanke. Wer die Philosophie je für wichtig genug erachtet hat, in der Weltpolitik eine Rolle zu spielen, der/die hat anderes im Sinn als diese kauzigen Gedichte, mit denen eine Biolinie für Möbel, Schuhe und Gesichtscreme (mit unfassbar kurzem Ablaufdatum, so bio ist sie) Werbung macht. Es braucht aber gar keine Naziprolls, die sich am Nachlass des geistig umnachteten Nietzsche zu schaffen machen oder mit dem Hobbesschen Leviathan das Recht des Stärkeren abfeiern. Und, shame on me, auch keinen Martin Heidegger, der dem Donald Trump seiner Zeit Vernunft unterstellt. Das Übel liegt viel näher als wir glauben.

  

Drei: Incel-Love

Arendts These von der Einsamkeit hat harte Konkurrenz. Es gibt da die viel klingendere Erzählung von der Allmacht des Hasses, die sich allein schon dadurch so viel besser präsentieren kann, weil es oft die Betreffenden selbst sind, die ihre Richtigkeit eifrig bestätigen.

Das wohl überzeugendste Beispiel dürften die Incel-Foren sein, in denen sich junge Männer über ihren Hass auf Frauen austauschen, die sie zum Leben ohne Sex und Zuneigung verdammen würden. Die involuntary celibates liefern zugleich auch das schlagkräftigste Argument dafür, dass der Hass für das Böse in der Welt verantwortlich ist: Sie schreiben eine Geschichte fort, die wir uns über den Hass schon sehr lange erzählen, nämlich dass er sich dort einnisten kann, wo die Liebe fehlt.

In der Geschichte der europäischen Philosophie hat man die Liebe mit dem Hass immer gerne (zwangs-)verheiratet. Das liegt daran, dass sie einander in bestimmten Aspekten überraschend ähnlich sind. Liebe und Hass verbindet, dass sie anders als die Affekte (wie Wut, Zorn oder Freude) „eine Einsetzung der eigenen Person“[ix] nach sich ziehen oder, wie Martin Heidegger es etwas hölzern formuliert, „unser Wesen in eine ursprüngliche Geschlossenheit“[x] bringen. Im Lieben wie im Hassen ist man immer als ganzer Mensch da, man ist der- oder diejenige, der/die jemanden hasst oder liebt. Das eigene Hassen oder Lieben sagt etwas über uns aus; es ist eine entscheidende Komponente unseres Wesens – „ein wesentliches, mitentscheidendes Element der Lebensgestaltung selbst“.[xi] Sowohl bei der Liebe als auch beim Hass handelt es sich um ein „beständiges Tun“.[xii] Man spürt dem Gehassten oder Geliebten aktiv nach, sucht es auf, man lässt nicht locker; Freude, Ekel und Abneigung hingegen verfliegen. Und weder die Liebe noch den Hass gibt es lauwarm; sie haben eine andere „seelische Temperatur“[xiii] als Freude oder Abneigung. Der Hass hüllt seinen Gegenstand „in eine ungünstige Atmosphäre; er frißt ihn an, er dörrt ihn aus wie ein glühender Schirokko, er hebt ihn virtuell auf und zerstört ihn“[xiv], wohingegen die Liebe den/die Geliebte:n mit ebenso großer Wärme umschließt. Liebe und Hass haben also einiges gemeinsam. Deswegen nannte Aurel Kolnai sie „symmetrisch-gegensätzliche Urkräfte“.[xv]

Das Phänomen der Hassliebe, wie es der arme Catull, der Dichter von Odi et amo, offenbar einmal spüren gelernt hat, legt aber nahe, dass es mehr als nur Gemeinsamkeiten sind, mit denen wir es bei Liebe und Hass zu tun haben – ja, dass sie in Wirklichkeit sogar auf demselben Spielfeld stehen. „Je leidenschaftlicher man seine Geliebte liebt, umso näher ist man daran, sie zu hassen“[xvi], schrieb Michel de la Rochefoucauld – um nur einen der Tausenden von Belegen zu zitieren, die Hass mit der Abwesenheit von Liebe erklären.

 

Vier: Die Bösewichte von heute

Hannah Arendt sagt, dass die Bösewichte von heute anders funktionieren würden. Sie haben keine klingenden Namen, sie sind keine faszinierenden Charaktere (Männer in der Midlife- oder Endlife-Crisis sind nämlich nicht faszinierend) und es wird wahrscheinlich auch keine spannenden Theaterstücke zu ihnen geben. Die Bösewichte von heute heißen nicht Macbeth und Richard III[xvii], sie heißen Adolf Eichmann und Elliot Rodgers, Bibi Netanjahu, Baschar Al-Assad, Donald Trump, Elon Musk, Herbert Kickl, Vladimir Putin.

Was diese Herrschaften gemeinsam haben, ist, dass ihnen das typische Bösewichtsprofil fehlt. Es gibt keine psychologischen oder charakterologischen Gründe, die man anzählen könnte, um zu erklären, warum sie Böses tun oder Böses wollen, schreibt Arendt. Sie hassen nicht. Sie sind keine überzeugten Ideologen, keine Intellektuellen, sie sind weder besonders klug, noch ausgesprochen dumm, sie sind banal  - in ihrer Analyse von Eichmann klingt Arendt fast empört: sie sind durch und durch banal. Ein paar von ihnen sind sogar richtig tiefe Trotteln, Vollpfosten, Häusln, würde man in Wien sagen. Die Bösewichte von heute sehen aus wie Idioten, riechen nach Idioten und, Hannah Arendt sagt, sie sind es auch.[xviii]

 

Fünf: Der Idiot

Der idiotes ist der Einzelne, also der, der nicht eingebunden ist mit anderen, sondern nur sich selbst hat und seine eigenen Interessen verfolgt. Bei Platon entspricht der Idiotie ein eigener Menschentyp. In seiner großen Fantasie eines idealen Staates entsprechen jene Menschen, die ein sozusagen idiotisches Verhalten an den Tag legen, dem Stand der demiurgoi. Das sind: Handwerker:innen, Bäuerinnen und Bauern, auch Künstler:innen und Unternehmer:innen. Ihnen ist gemein, dass ihr epithymetikon, das ist der begehrende Seelenteil, besonders ausgeprägt ist. Das soll heißen, dass sie eher ihre eigenen Interessen im Blick haben als die der anderen (und diesen auch den Vorzug geben).

Für Platon sind die demiurgoi keine schlechten Menschen. Aber es sind auch nicht jene, die über die Eigenschaften verfügen, die es braucht, um den Staat gut zu führen. Dafür braucht es solche, die nicht nur ihr eigenes Gute im Blick haben, sondern auch das der anderen. (Und hier bog Platon falsch ab Richtung Philosophenkönig.)

Seit Platons Abwehr des Egoismus im Politischen hat sich unsere Denkweise deutlich gewandelt. Die Fähigkeit zur Politik schreibt man nun eher jenen Menschen zu, die unternehmerisch tätig sind oder es einmal waren. In Österreich erinnert man sich vielleicht noch an Frank Stronachs oft getätigten Satz: „Ick bin kein Politiker.“ Der Trend zum Unternehmer:innentum in der Politik ist ein Resultat der liberalen Theorie. Adam Smith, der Begründer der klassischen Nationalökonomie, bescheinigt Handlungen, die altruistischer Natur sind, sogar eine schädigende Wirkung für das wirtschaftliche Wohlergehen des Staates. Nur dann, wenn jedes Subjekt ausschließlich seine eigenen Interessen verfolge, wäre das nationale Wohl gesichert.

Der Grund, warum es uns wundert, dass bewiesenermaßen korrupte Menschen nicht abgewählt oder sogar wiedergewählt werden, ist, dass wir uns dieses sprichwörtlich idiotischen Zugs in der Politik (noch) nicht ausreichend bewusst sind. Womöglich kommt der eine oder die andere unter uns sogar in die Verlegenheit, den Wähler:innen Dummheit zu unterstellen. In Wahrheit werden Korruption und Egoismus, wenn nicht überhaupt goutiert oder sogar bewundert, doch zumindest in Kauf genommen. Hinzu kommt, dass der entsprechende Normalisierungseffekt nicht zu unterschätzen ist. Ob also die nächste strafrechtliche Verurteilung (Stormy Daniels), die sorgfältig geplante Abhörfalle (Ibiza) oder der Nachweis moralisch verwerflichen Verhaltens (Bunga Bunga) für Empörung sorgen werden, ist mehr als fraglich. Das „Empört euch“, das vor einigen Jahren ausgerufen wurde, verliert seine Adressat:innen.

 

Sechs: Themenverfehlung

Carolin Emcke schrieb vor ein paar Jahren ein Buch. Sie nannte es: „Gegen den Hass“.

„Was sehen sie nur?“, fragt sich Emcke beim Sehen eines Videos, das die Ausschreitungen gegen Geflüchtete in Clausnitz zeigt. „Was sehen sie nur anders als ich?“[xix] Emcke sieht in dem Bus, der von dem Mob umringt wird, verängstigte Frauen, ein weinendes Kind. Und sie sieht, dass die Menschen, die sich zum Mob formiert haben, genau das nicht sehen. „Welche Techniken des Aus- und Überblendens braucht es dafür?“[xx]

Ich glaube, Hannah Arendt hätte der Emcke zu einem anderen Titel geraten. Und vielleicht hätte sie auch zu bedenken gegeben, dass es gefährlich sein kann, dem Hass einen so großen Raum in unserem Denken zu geben. Es stellt sich nämlich die Frage, ob wir, wenn wir dem Hass diesen Raum zugestehen und unsere soziale und politische Erzählung seiner vermeintlichen Macht unterstellen, einander nicht vermehrt als Hassende begegnen werden. Ganz zu schweigen davon, dass der Hass ein Phänomen ist, das wenig – viel zu wenig – mit Verantwortung, also: mit Handeln zu tun hat. Hass ist schwer einzudämmen, schwer zu greifen. Nicht umsonst spricht Alain Badiou (dessen Ansichten zum Konnex zwischen „wahrer“ Politik und Feindschaft ich nicht teile) von der „Kontrolle“ über den Hass als der Aufgabe der Politik.[xxi] Dass er dieses Wort wählt, liegt daran, dass Hass nichts ist, das einfach aufhört.

Ich glaube, für Arendt wären die Paradebeispiele für den Hass – die Incels, die Dschihadisten und die Frauenmörder – nur die Spitze eines gigantischen Eisbergs, der sich unserem Blick weitestgehend entzieht. Wenn wir uns bloß auf den Hass konzentrieren, übersehen wir das Wesentliche: die Einsamkeit. Sie mag uns so belanglos und fade erscheinen wie der Satz Stendhals bei seiner Limonade, aber sie ist es nicht.

Ich glaube – mit Badiou –, dass es kein konkretes Mittel gegen Hass gibt. Auch Bücher “gegen” ihn werden nicht viel anrichten. Schlimmstenfalls nivelliert dieses unvorsichtige Sprechen vom Hass eine Erfahrung, die, so wage ich zu hoffen, nur wenige Menschen tatsächlich machen müssen. Es steht sogar zu befürchten, dass dadurch die Eigenart des Hassens so sehr verwässert wird, bis es mit anderen Phänomenen – dem Ekel, der Abscheu, dem Hohn – gleichgesetzt wird. Die Folge wäre eine im wahrsten Sinne des Wortes unbegreifliche, weil begriffslose Wirklichkeit.

…und die Mittel gegen den vermeintlichen oder tatsächlichen Hass jener, die man zu Hatern erklärt hat? Erfahrungen aus der Deradikalisierung von Jugendlichen zeigen, dass es wesentlich um Beziehungsarbeit geht: um Akzeptanz, Respekt, über das Sich-fühlbar-Machen, das Aufzeigen der Unterschiede und das Aushandeln einer gemeinsamen Sprache, mittels derer man an einer gemeinsamen Welt bauen kann. Es geht also um all jenes, was sich – in freilich hochgradig pervertierter Form – bei den betreffenden Jugendlichen auch in ihrer Radikalisierung vollzogen hatte: Sie hatten nach Austausch gesucht, nach einem Gespräch mit anderen, einem Verbund von Gleichgesinnten, nach einer gemeinsamen Aufgabe. Denn sie waren einsam gewesen.


[i] Hannah Arendt, Denktagebuch Band 1, München/Berlin/Zürich: Piper 2016, S. 167.

[ii] Robert Alter, Stendhal. Eine Biographie. Berlin 1985, S. 194.

[iii] Ebd.

[iv] Stendhal: Tagebücher und andere Selbstzeugnisse. Zwei Bände. Berlin (Ost) 1983, Band 1, S. 24.

[v] Arendt, Denktagebuch, S. 141.

[vi] Arendt, Denktagebuch, S. 140.

[vii] Jener Mensch, den Aristoteles vorführt, um an ihm den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu erweisen, wird, so er sich in Schweigen hüllt und also unbestimmt bleibt, von der Menschheit ausgeschlossen. Der sei, sagt Aristoteles, kein Mensch mehr, sondern gliche eher einer Pflanze (Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1006a 15). Eine denkwürdige Aussage – und sie steht nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in der aristotelischen Metaphysik, die immerhin für die Grundfeste der abendländischen Wissenschaften gesorgt hat. Vgl. dazu Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 56. Miriam Metze, Die Sprache und ihr Schweigen, das Schweigen und seine Sprache. Universität Wien: Wien 2018, S. 36 ff.

[viii] “Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. / Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf / dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, / und die findigen Tiere merken es schon, /daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt." Rainer Maria Rilke, Die Gedichte. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag 2021, S. 689. Vgl. dazu Arendt, Hannah/Stern, Günther: Rilkes Duineser Elegien, in: Neue Schweizer Rundschau. Wissen und Leben. Januar 1930 – Dezember 1930. XXIII. Jahrgang. 38./39. Band, S. 855-871.

[ix] Aurel Kolnai, Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 101.

[x] Martin Heidegger, Nietzsche Band I (GA 6.1) , Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1996, S. 58.

[xi] Kolnai, S. 102.

[xii] José Ortega y Gasset, Über die Liebe. München: Wilhelm Heyne 1986, S. 92.

[xiii] Ebd., S. 91.

[xiv] Ebd., S. 94.

[xv] Kolnai, S. 115.

[xvi] „Je leidenschaftlicher man seine Geliebte liebt, um so näher ist man daran, sie zu hassen.“ Michel de la Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Stuttgart: Reclam 1995, § 11, S. 18.

[xvii] Arendt, Denktagebuch, S. 18.

[xviii] Manchmal sind sie es offenbar auch aus physiologischen Gründen: Der nächste Gesundheitsminister der Vereinigten Staaten soll ein Mann werden, der laut eigenen Angaben an Gedächtnisverlust und weiteren kognitiven Problemen leidet, weil „ein Wurm in sein Gehirn eingedrungen war, einen Teil davon gefressen hatte und dann starb.“ Vgl. https://www.nytimes.com/2024/05/08/us/rfk-jr-brain-health-memory-loss.html

[xix] Carolin Emcke, Gegen den Hass. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2019, S. 50.

[xx] Emcke, S. 53.

[xxi] Alain Badiou, Lob der Liebe, Wien: Passagen 2011, S. 60. Ich zitiere indirekt eine Stelle von S. 52: „In der Politik ist der Kampf gegen den Feind grundlegend für die Aktion. Der Feind ist wesentlicher Bestandteil der Politik. Jede wahre Politik bestimmt ihren wahren Feind.“

Weiter
Weiter

Als Heraklit schrie. Der Mut zur Wahrheit.