Die Basis ist das Miteinandersein

Alternative Wege suchen: Ein Gespräch über den „Versuch einer Politik der Verletzbarkeit“

Interview: Christian Muggenthaler, Regensburger Zeitung (Februar 2024)

Einen Vortrag über den „Versuch einer Politik der Verletzbarkeit“ hält die Philosophin Miriam Metze am Donnerstag, 29. Februar, ab 19 Uhr im Diözesanzentrum Obermünster. Es soll darum gehen, was es heißt, verletzlich zu sein, und was gut daran ist, sich die Blöße zu geben. Weil es gut ist, gerade in Zeiten der Verunsicherung auf die Antworten der Philosophie und der Philosophiegeschichte zu hören, hier schon mal ein paar Gedanken zum Thema über Verletzbarkeit, das Ich, das Du, Selbstoptimierung und Einsamkeit und mögliche neue Wege des Zusammenseins.

In seinem Buch „Im Grunde gut“ versucht Rutger Bregman zu beweisen, dass der Mensch ein zutiefst soziales Wesen ist, schon allein deshalb, weil er als Kind lang andere braucht, die für ihn sorgen. Teilen Sie diese Ansicht?

Miriam Metze: Diese Ansicht findet sich schon bei Aristoteles: Der Mensch verfüge über eine zweite Natur, die er sich erst im Laufe seines Lebens aneignet. Aus dieser Beobachtung herausstellt sich für Aristoteles erst die Notwendigkeit einer Ethik. Trotzdem hat die Philosophie sehr lange gebraucht, um das Soziale in den Blick zu nehmen. Martin Buber war einer der ersten, der sich die Frage stellt, ob man den Menschen bislang nicht zu sehr von seiner Autonomie her gedacht hat. Tatsächlich beruht schon die Philosophie auf dem Miteinandersein: Sprache habe ich, sagt Buber, nur, weil ich immer schon angesprochen worden bin.

Die Verletzbarkeit des Ich sorgt für das Wahrnehmen der Verletzbarkeit des Du: Ist das die Quelle von Empathie und Altruismus?

Metze: Das könnte ein Weg sein, ja. Grundsätzlich braucht es aber vielleicht nicht den Zugang zur eigenen Verletzbarkeit, um andere in ihrer Verletzbarkeit wahr- und anzunehmen. Man kann sich ja auch stark fühlen wollen in der Rolle der Beschützerin, des Beschützers. Martin Buber Buber denkt, dass es in Wirklichkeit das Du ist, das schon immer vor meinem eigenen Ichsein steht, welches uns gestattet, uns auf andere Menschen zu beziehen. Wir sind schon immer bei den anderen, bevor wir zu uns selbst kommen.

Kann man das Wahrnehmen von Verletzbarkeit des Gegenübers lehren und lernen?

Metze: Es ist schon einmal eine ganz wichtige Sache, dass die Frage der Verletzbarkeit eine aisthetische Angelegenheit ist, also etwas mit unserer Wahrnehmung, griechisch aisthesis zu tun hat. Ob wir die Welt anders und neu kennenlernen können, Menschen, Tiere und Natur in ihrer Verletzbarkeit sehen können, hängt davon ab, wie weit wir unsere eigenen Denk- und Fühlgesetze auf ihre Sinnhaftigkeit überprüfen wollen. Um daraufhin an unserer Wahrnehmung zu arbeiten: Das kann die Auseinandersetzung mit dem Schönen sein, in der Kunst, die Natur, die Begegnung miteinander in der Freundschaft. Um uns der Verletzbarkeit der anderen gewahr zu werden, braucht es auch immer die anderen, um uns immer und immer wieder daran zu erinnern, dass das Ideal des großen, starken, unabhängigen Subjekts zwar verlockend, aber unsinnig ist - besonders in Zeiten der Selbstoptimierung und einer Politik der starken Männer, wie sie in Ungarn, Österreich, in den USA und an vielen weiteren Orten praktiziert wird. Dieses Ideal des Starkseins ist ganz tief in uns drin.

Wie könnte im Gegensatz dazu eine Politik der Verletzbarkeit ausschauen?

Metze: Eine Politik der Verletzbarkeit hat in Ansätzen schon im Zuge der Corona-Pandemie Eingang gefunden. Wir sprechen heute ganz selbstverständlich von sogenannten vulnerablen Gruppen, von Menschen also, die aufgrund ihrer gesundheitlichen oder sozialen Disposition besonders verletzbar sind, sei es für eine Pandemie, psychische Krankheiten oder Verschuldung. Das ist einmal ein erster Schritt. Viele andere sind noch zu tun. Ich glaube, ein weiterer Schritt in die richtige Richtung könnte der sein, sich in seiner eigenen Verletzbarkeit, in seiner Blöße wahrnehmbar zu machen. Ich denke, dass wir nur auf diesem Weg die Möglichkeit haben, gemeinsam zu einem anderen Verständnis von Menschsein zu gelangen, in dem es nicht mehr nur darum geht, wie viel ein Mensch leistet, sondern auch die Fehler, Schwächen und Verwirrtheiten anerkennen zu lernen, die alle von uns mitbringen. Und nur dort, wo wir einen Menschen in seiner Ganzheit sehen – also nicht nur das Gute und Richtige an ihm oder ihr, sondern auch die ‘schlechten Seiten’ –, nur dort lieben wir auch wirklich. Es ist nämlich keine Liebe, wenn wir jemand nur dann lieben, wenn er oder sie unseren Vorstellungen eines idealen Menschen entspricht.

Wie ist unter solchem Ideal des liebenden Zulassenkönnens der Umgang mit offenbarer, bedrohlicher Gewalt möglich?

Metze: Josef Hader hat einmal gemeint, er schätze besonders jene Politiker und Politikerinnen, die zögerlich seien. Ich sehe das ähnlich. Gerade in akuten Krisensituationen verfallen wir zu schnell dem Hang zu radikalen Entscheidungen – weil wir verletzt wurden, gedemütigt sind. Aber in Wahrheit bräuchte es auch und gerade dort das Bewusstsein des Menschseins der anderen, auch jener, die uns Unverzeihliches angetan haben. Das aber braucht Zeit, die in der Politik als Zögerlichkeit ausgelegt wird.

Gilt das Erkennen der Verletzbarkeit nur für ein menschliches Gegenüber oder auch für die Natur – beispielsweise im Sinn der französischen Philosophin Corine Pelluchon?

Metze: Ja, das denke ich, wenngleich es für Menschen, die in der europäischen Denktradition groß geworden sind, relativ schwer ist, diese Verletzbarkeit und Verletztheit der Welt wirklich durchzudenken. Die europäische Philosophie nimmt in Griechenland ihren Ausgang von der Frage, was daran gut ist, dass es so ist, wie es ist. Sie denken die Welt als kosmos, also als wohlgeordnetes Ganzes, das gut und schön und vernünftig ist. Heute müssen wir die Welt anders denken lernen, weil wir mit der Verletzbarkeit unserer Umwelt unmittelbar konfrontiert sind. Deswegen habe ich zuletzt über den Mystiker Isaak Luria gesprochen, der den Schöpfungsakt nicht als kosmein, als “eine Ordnung herstellen”, denkt, sondern als universale Katastrophe. Der lurianischen Kabbala zufolge besteht die Aufgabe des Menschen im “Tikkun”, in der Reparatur der Welt. Nach Luria kommt dem Menschen also eine tragende Rolle in der Welt zu – er ist Mitgestalter und nicht, wie bei den Griechen nur Beobachter, denn die Welt selbst ist verletzt. Dieses Motiv des Verantwortlichseins halte ich für unsere aktuelle Situation in Zeiten der Klimakrise für unabdingbar.

Viele Ichs auf einen Haufen ohne Du als Gegenüber ergibt rasch Einsamkeit. Einsamkeit aber ist offenbar ein wesentlicher Grund dafür, dass Menschen zu extremistischen Ansichten neigen: Wo und wie erkennen Sie da Zusammenhänge?

Metze: Ich würde da sehr stark von Hannah Arendt aus denken, die der Ansicht war, dass der Topos der Einsamkeit, wie er in der Philosophie Europas entwickelt worden ist, maßgeblich für die beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich war. Ihre Kritik richtet sich gegen Nietzsche, aber auch und vor allem gegen Rilke, der meinte, sich in die Rolle des Verlassenen zurückziehen zu dürfen. Verlassen zu sein heißt für Arendt, seinerseits alles und alle zu verlassen, heißt, sich der Verantwortung zu entziehen, die man für die anderen immer schon hat, egal, ob man das will oder nicht. Nicht mehr danach zu streben, mit anderen in Kontakt zu treten, mit ihnen zu sprechen, ihre Meinungen und Perspektiven hören zu wollen, das ist für sie die Quelle eines jeden faschistischen Systems – und damit eine moralisch absolut verwerfliche Haltung.

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