Gegen das Gegentrauern
ACHTUNG: Worte können viel. Sie machen traurig, wütend und sie verletzen. Aber sie müssen gesagt werden - nicht, weil sie richtig sind, nicht, weil sie passen und am meisten Angst sollte man tatsächlich vor jenen haben, die den Anschein erwecken, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Das Geschriebene bleibt stets Versuch einer Annäherung, der angesichts der gnadenlos weiterrasenden Zeit und der weiteren Entwicklungen zum Scheitern verurteilt ist. Aber Worte müssen gesagt werden. Weil wir nur sie haben, um unsere Gedanken und Gefühle auszudrücken und die eigene Welt teilbar zu machen - um derart vielleicht, mit viel Glück, mit anderen eine gemeinsame Welt zu bewohnen. Nur, wenn wir sie ins Außen, zu den Anderen tragen, gibt es die Möglichkeit zu Korrektur.
14.10.2023
Ich sitze im vollbesetzten Zug nach München, von dort geht es weiter nach Wien. In derselben Zeit könnte ich dort sein, woher die Bilder kommen, die mich seit einer Woche überallhin verfolgen. Es ist eine eigentümliche Unruhe, die ich in mir habe. Sie wird dort lauter, wo es ruhig wird, wie gestern, beim Spaziergang durch oberpfälzische Felder in der Abendsonne oder beim Essen mit meiner WG. Zwei große Pfannen, wir witzeln darüber, dass man in Sorge war, es könnte zu wenig sein, haben uns gern, wir werden alle satt. Ich lächle und gleichzeitig muss ich schlucken. Beim Spaziergang denke ich an die Menschen, die letzten Samstag über die Felder rannten, stelle mir vor, es selbst zu tun, sehe in einen Graben und phantasiere, ich schmisse mich hinein und stellte mich tot. Vor ein paar Tagen träumte ich davon, nicht laufen zu können.
Die vergangenen Tage habe ich meinen Freunden (es sind ausschließlich Männer) in Israel geschrieben. Jede abgeschickte Nachricht fühlte sich an wie ein Beispiel für Schrödingers Katze. Was, wenn keine Antwort kommt. Ich biete ihnen an, in meiner Wiener Wohnung unterzukommen und einen Platz im Haus in Deutschland, falls jemand etwas Luft und Frieden braucht. Alle bedanken sich, keiner will gehen. Mehr kann ich nicht tun.
Es ist schwierig, nicht mehr tun zu können.
Am Donnerstag gibt es einen Luftalarm, es hieß, die Hisbollah greife nun aus dem Norden an. An dieser Grenze stand ich schon einmal, vor vielen Jahren. Es ist schwer zu begreifen, dass dort, wo ich war, an einem schönen Sommertag, unterwegs mit einem Amerikaner um die vierzig, den ich auf dem Weg im Bus kennengelernt hatte und der genauso allein und planlos war wie ich, jetzt die Angst sitzt. Wir waren unbeschwert und so frei, wie man es unter Fremden bei einem spontanen Trip durch ein neues Land ist.
Ein Freund aus Yafo hat vor ein paar Monaten ein Baby bekommen. Es muss jetzt auf den Tag genau sieben Monate alt sein. Vor Jahren, lange bevor ich meinen Sohn bekommen habe, war er auf Besuch in Wien, er und seine damalige Freundin saßen verfroren in der Wohnung, als ich aus Tel Aviv zurückkam, die Heizkörper auf höchster Stufe. In Israel ist im November Regenzeit, Schnee sieht man selten. Ich zeigte ihnen unser Grätzl, die Leopoldstadt, die sich mir seit diesem Spaziergang stark verändert zeigt. Dick eingepackt in die geborgten Wintermäntel frieren die beiden wieder. Die Flaktürme im Augarten, die Stolpersteine, die Denkmäler, überall Zeugnisse der Grauen der Shoah. Der Boden, auf dem ich lebe, ist für sie verbrannte Erde. Mein Freund hat einen deutschen Pass, er würde trotzdem nie nach Europa ziehen.
Jetzt bin ich es, die nicht versteht. Das kleine Baby, das nur mit Glück und viel Zufall nicht Opfer der Hamas geworden ist. Mir vorzustellen, ich reiste mit meinem Sohn zu Ostern nach Israel, wie ich es vor zwei Wochen noch im Kopf hatte, fällt mir jetzt schwer.
Ich sehe aus dem Fenster auf die vorüberfliegenden Felder und wünsche mich zurück in die Unbesorgtheit dieses einen Sommertags im Norden Israels. Der Alarm vom Donnerstag stellte sich als falsch heraus, unbegründet ist er nicht.
Ein Freund aus Jerusalem schreibt mir, er sei hin- und hergerissen, zu gehen oder zu bleiben. Zu bleiben heißt: in Kauf zu nehmen, eingezogen zu werden, wenn sich eine Front im Norden auftut. Er sagt, er würde kämpfen. Ich stehe innerlich vor der Grenze zum Libanon, aber anders, als vor 13 Jahren. Jetzt will ich, dass diese Grenze Grenze bleibt.
Bild: Grenze zum Libanon im Norden Israels
Ich muss mich erst an diesen Wunsch gewöhnen. Als ich das letzte Mal gemeinsam mit meinem Sohn nach Deutschland fuhr, bat er mich, ihm die Landesgrenze zu zeigen. Ich war stolz, ihm sagen zu können, dass unser Land, Österreich, nicht von einem Grenzzaun umrahmt ist.
Ich kann die Felder nicht mehr sehen und sehe mir die Menschen im Zug mir gegenüber an. Sie sind überall, die Menschen, die trauern. Man sieht sie schnell. Gegenüber von mir starrt eine junge Muslima erschüttert auf ihr Handy. Auf der anderen Seite lässt eine Frau ihren Tränen freien Lauf. Vielleicht hat sie keine Nachricht bekommen. Ich beneide sie, dass sie so weinen kann, ich schäme mich schon für die wenigen Tränen, die mir über die Wange laufen bei dem Gedanken, ich hätte von den Israelis nichts gehört, Schrödingers Katze tot, lächle das kleine Kind auf dem Schoß meiner indischen Sitznachbarin tapfer an. In Landshut steigt eine Frau ein, die sich mehr als wir anderen um Fassung bemüht. Es ist kein Platz mehr frei, vielleicht lässt es sich im Stehen einfach nicht so gut weinen.
Ich bin mir sicher, wir trauern alle um dasselbe. Wir trauern um Menschen, um unsere Hoffnung, um die Zukunft. Ich möchte mit ihnen sprechen, aber ich tue es nicht. Es ist zu voll, und es würde zu sehr aus dem Rahmen fallen.
In München reißt uns die samstägliche Reiseflut auseinander. Ich habe noch die Torte von der Frau neben mir am Schoß. Ich hatte ihr angeboten, sie zu halten, dass sie die Kleine stillen kann. Ich kann erst aufstehen, nachdem sich die Familie gesammelt hat. Die drei Frauen sind in der Menge verschwunden. Irgendwie bin ich froh darüber, denn ich habe Angst, die anderen Frauen könnten denken, dass wir nicht um dasselbe trauerten. So, als könnte man gegeneinander trauern. Auf der Suche nach meinen Anschlusszug frage ich mich, wie die junge Mutter aus Indien die Nachrichten der vergangenen Woche gelesen hat. Ob es für sie ähnlich weit weg ist, wie für mich die heutige Folge des Washington Post-Podcasts über die steigenden Temperaturen in Indien und ihre sozialen Folgen.
Wenn ich den Reden von Politiker*innen dieser Tage zuhöre, gewinne ich den Eindruck, dass deren Trauer eine andere ist als meine. Eine, die die Toten der einen Seite gegenüber der anderen anders betrauert. Mir kommt es so vor, als wären die Begriffe, die aus ihren Mündern kommen, verdreht. Ich will sie umdrehen, einen Begriff nach dem anderen, ich habe Zeit, bis Wien ist es noch weit, so, wie die Felder da draußen weit sind, auf denen ich nicht um mein Leben kämpfen muss. Ich bin froh, dass jetzt die Berge kommen.
Solidarität
Ich fühle mich solidarisch mit jedem einzelnen dieser Menschen, dessen Zukunft durch die Ereignisse der vergangenen Woche und der bevorstehenden Monate eine andere werden wird. Meine Solidarität gilt auch den Menschen in Gaza.
Ich will keine Flagge hissen, eigentlich nie, aber dieser Tage schon gar nicht. Ich fühle mit allen Menschen in Israel, mit seinen Bürgerinnen und Bürgern, mit den afrikanischen Migrant*innen und der nepalesischen Community, die 10 Studierende zu betrauern hat; ich denke an die arabischen Israelis in Nazareth und anderswo, deren Lage in diesen Monaten eine besonders heikle werden wird. Ich fühle mit Jüdinnen und Juden weltweit, ich fühle ihr Verletztsein, ihre Angst, ich bin traurig. Und ich denke an die Kinder, Frauen und Männer in Gaza.
„Bilder“
Es ist von schrecklichen Bildern die Rede, die uns aus Gaza erreichen werden. Wir werden vorgewarnt. Es ist Fakt, dass es sich dabei um ein abgekartetes Spiel der Hamas handelt, sie wollen Tote sehen, damit die arabischen Staaten gezwungen werden, die Normalisierung der Beziehungen mit Israel rückgängig machen oder dahingehende Bestrebungen (Saudi-Arabien) auszusetzen. Das Leid, das mit der Bodenoffensive des IDF kommen wird, soll Menschen aus arabischen Ländern weltweit auf die Straße ziehen.
Aber sind Bilder denn nur Bilder? Sind die Bilder von toten Menschen etwas, das wir nicht an uns herankommen lassen dürfen (-…können?), das uns nicht nahegehen darf (-…wird?), weil wir damit dem Kalkül der Hamas entsprechen?
Damit, meine ich, würden wir es uns zu leicht machen. Die Wirklichkeit gestaltet sich komplexer, als wir es in diesen Tagen wahrhaben wollen. Wir müssen uns die Fähigkeit bewahren, auch dieses Leid zu betrauern, uns um diese Menschen zu sorgen. Die Menschen in Gaza werden nicht aus propagandistischem Kalkül leiden. Sie werden leiden, weil sie ihre Wohnungen, ihre Häuser, ihre Lebensgrundlage, ihre Kinder verlieren werden – und nicht, weil sie den Zielen der Hamas Genüge tun wollen. Wenn wir an diesem Leid vorübergehen, laufen wir Gefahr, dass wir unser Verständnis für jene verlieren, für die diese Bilder nicht Bilder sind.
Der Antisemitismus in arabischen Communities in Europa ist Fakt; ein schwerwiegendes Problem, um das man sich viel zu lange nicht gekümmert hat. Dieser ist durch nichts zu rechtfertigen. Doch muss die Trauer um Gaza für uns nachvollziehbar sein. Der Polarisierung der Ansichten nicht beizukommen, das Leid von Be’eri, Sderot und Nahal Oz auszuspielen gegen das Leid von Gaza, wird nur Hass erzeugen, Hass, der sich – wieder! – in die nächsten Generationen fortpflanzen wird. Wir dürfen niemanden in die Ecke stellen, die/der die verzweifelte Lage der Palästinenser*innen sieht, dürfen niemanden verlassen, die/der jetzt um die Menschen von Gaza bangt. Diese Trauer darf und muss auch sein.
In meinem Kopf steht das Kind in Gaza, dessen Lebensgrundlage nun zerstört werden wird, neben der Frau, die von der Hamas aus einem Jeep gezerrt wird. Sie blutet im Schritt, offenbar wurde sie vergewaltigt. Für mich steht nichts zwischen diesen beiden Menschen und darf auch nichts stehen.
Wir müssen in unserer Trauer füreinander lesbar bleiben, wir müssen sehen, dass wir alle dasselbe betrauern – Menschen, die nur eines wollen: in Frieden leben.
Eurozentrismus
Gestern Nacht scrollte ich wieder einmal durch meinen Newsfeed auf Facebook und las Kommentare derer, mit denen ich in Israel und Palästina befreundet bin. Mit einigen bin ich es im echten Leben jetzt wohl nicht mehr. Ich lese Hass, Hass, der sich in Worte einnisten konnte, weil sie zu Gegen-Worten geworden sind. Ich verstehe das Verletztsein, aber nicht den Hass. Der Nachbar eines Freundes aus Netanya schreibt davon, Gaza umzumähen, zu säubern. Das sogenannte „Rasenmähen in Gaza“ kann mittlerweile auf eine lange Tradition zurückblicken. Es hat Menschen zurückgelassen, die traumatisiert sind von der Begegnung mit israelischen Soldatinnen und Soldaten, welche Palästinenser*nnen unter Generalverdacht stellen: Weil sie ihrerseits traumatisiert sind. Alle – Israelis und Palästinenser*innen – kennen Menschen, die nicht mehr da sind, und es noch sein könnten.
Aus dem Rasenmähen, um bei der grausamen Metapher des Gärtnerns zu bleiben, ist ein Entwurzelungsverfahren geworden. Es ist klar, dass sich mit ihm neuer Hass einstellen wird. Krieg gegen den Terror ist das für mich nicht. Es wird abermals Wunden erzeugen und Menschen in den Hass treiben.
Krieg gegen den Terror, das ist Neve Shalom, Wahat al Salam. Das ist ein Dorf zwischen Jerusalem und Tel Aviv, in dem Menschen beweisen, dass man anders leben kann. Dort leben arabische Israelis und jüdische Israelis Seite an Seite, Haus an Haus. Ihre Kinder gehen miteinander in die Schule, ins Schwimmbad, beten und kochen miteinander. Das Dorf ist klein, aber es ist da. Es wurde zwei Jahre nach dem Sechstagekrieg von 1967 gegründet, eine damals wie heute unvorstellbare Aktion.
Bild: Neve Shalom
Es ist davon die Rede, dass wir hier in Europa unseren Eurozentrismus über Bord werfen sollten. Wir sollten uns in unserem Urteilen in Enthaltsamkeit üben, weil wir die Wirklichkeit des Nahen Ostens nicht verstehen könnten. Ich bin der Meinung, dass ich auf meinen Reisen durch Israel und Palästina viel in Erfahrung bringen konnte, was Israelis nicht oft zu Gesicht bekommen. Als Touristin hatte ich die Möglichkeit, in die Westbank zu fahren und mit den Menschen dort zu sprechen. Habe von den Demütigungen an den Checkpoints gehört, von zerstörten Olivenhainen, die die Lebensgrundlage vieler waren. Ich war in Nazareth und habe von den Schwierigkeiten gehört, die das Leben als arabische/r Israeli bereithält. Die Generation meiner Freunde in Israel hingegen musste die Selbstmordattentate der 90er Jahre als Kinder miterleben, sie verloren viele Freundinnen und Freunde. Und sie haben trotzdem der Versuchung des Hasses widerstehen können.
Ich glaube nicht, dass dieser Blick von außen ein schlechter ist. Ich glaube, dass er das Potenzial hat, eine Stimme des Friedens zu sein. Ich war noch nie so gerne Europäerin wie heute.
Utopie statt Notwendigkeit
Dieser Tage ist viel von Notwendigkeit die Rede. Notwendigkeit ist ein Wort des Krieges. Wenn wir von Notwendigkeit sprechen, vergessen wir das utopische Potenzial, das Menschen zu Menschen macht. Mensch zu sein heißt, neu anfangen zu können, sagt Hannah Arendt, heißt, verzeihen zu können, heißt, Hoffnung zu haben, dort, wo es noch keinen Grund für sie gibt. Ich lehne mich aus dem Fenster: Ich glaube, sämtliche Friedensbewegungen schöpfen aus dieser Fähigkeit zum Utopischen, aus diesem Wunsch, eine andere Welt in die Welt zu setzen. Diese andere Welt nährt sich von einer Solidarität, die nicht zwischen Menschen unterscheiden kann. Menschen von Be’eri haben diese Solidarität gelebt, sie haben ihren Nachbarn und Nachbarinnen in Gaza geholfen mit Geld- und Essensspenden. Sie wussten, dass in Gaza nicht nur blutrünstige Menschen wohnen.
Die Bombardierung von Gaza steht für die fehlende Imaginationskraft der politischen Führungen. Um einen drohenden Flächenbrand zu vermeiden, versuchen die israelischen Militärs in Zusammenarbeit mit den Amerikanern die Bodenoffensive in Gaza gemäß der Dahiya Doktrin so stark wie kurz zu halten. Die dabei entstehenden „Bilder“, so offenbar die Annahme, sind weniger schrecklich, wenn sie nur kurz durch die Medien spülen. Ich denke, nicht alle werden sie beim nächsten schrecklichen Ereignis irgendwo anders auf der Welt vergessen haben.
Die warnende Stimme von António Guterres verhallt ungehört angesichts der Bemühungen der europäischen Länder, ihre historische Verantwortung für die Shoah wahrzunehmen. Ich versuche, dieser Verantwortung in meiner Arbeit, in meinem Leben und Denken und in der Erziehung meines Kindes gerecht zu werden. Ich glaube, sie besteht darin, kein Leben über das Leben eines anderen zu stellen.
Es ist notwendig, die Täter von Be’eri, Re‘im, die Mörder der Geiseln zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist notwendig, der Bedrohung durch die Hisbollah, durch palästinensische Milizen in der Westbank und durch die Hamas beizukommen. Zugleich aber muss es eine Stimme des Friedens geben, das ist eine Stimme, die sich nicht gegen eine andere stellt, sondern allen Menschen das gleiche Recht auf Leben, Schutz vor Gewalt und nicht zuletzt das Recht auf Trauer zuspricht.
Ich bin mittlerweile in Wien angekommen. Ich sehe keine Felder mehr.