Der Bann der Grillenfänger
„Wer bei seinen Einbildungen die Vergleichung mit den Gesetzen der Erfahrung habituell unterläßt (wachend träumt), ist Phantast (Grillenfänger) […].“
Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII 202.
Der Schlussteil der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, ein Grundlagenwerk europäischer Philosophiegeschichte, hält einige Bemerkungen bereit, die zu denken geben. Aristoteles stellt fest, dass seine weitschweifenden Ausführungen zum richtigen Handeln und zur Glückseligkeit – die immerhin ganze zehn Bücher umfassen – in Wirklichkeit wohl den wenigsten helfen würden, ein gutes Leben zu führen. Denn es sei der „breiten Masse“ (den „Vielen“, wie es auf Griechisch heißt, NE 1179b10) schlicht nicht möglich, ohne Furcht vor Strafen das Richtige zu tun, und so bedürfte es eben dieser Disziplinierungen in einer politischen Ordnung, die auf das Glück der Menschen abgestellt ist. Zucht und Ordnung also, Gesetz und Strafe im aristotelischen Traumstaat, „denn die meisten gehorchen eher dem Zwang als Worten und Strafen eher als dem Werthaften“ (NE 1180a5). Von Natur aus sei es ihnen gar nicht möglich, sich anders zu verhalten, schreibt Aristoteles. Diejenigen aber, fügt er hinzu, die auch über die Angst vor Strafe nicht lenkbar seien, die also auch dadurch nicht vom unrechten Handeln abzubringen wären, die „Unverbesserlichen“, wie er sie nennt, die müsse man „ganz aus dem Staat verbannen“ (NE 1180a10.).
Dieser Nachsatz – er kommt so leichtfüßig daher. Fast ist man geneigt, ihn zu überlesen, ist er doch typisch für die aristotelische Klassifikation nach Stufen und Graden, an deren Endpunkten notgedrungen Extreme stehen müssen. Aber all jene, die schon einmal vor oder in einem Gefängnis gestanden haben, werden von dem Bann, der sich in diesem Satz ausspricht, gebannt sein, ihn noch einmal lesen. Und dann noch einmal. Hier, an einem der prominentesten Orte europäischer Philosophiegeschichte, in einem Gründungsdokument abendländischer Ethik, spricht sich ebendieser Wille zum Verbannen und Wegsperren aus, wie er aus den abweisenden Gefängnismauern heraustönt. Wer aber noch nie diese Erfahrung des Gefängnisses gemacht hat, Mauer, Zaun und Glasscheibe nicht in dieser Qualität kennt, wird sich der Fragwürdigkeit des Unterfangens wahrscheinlich nicht bewusst sein.
Es ist die konkrete Erfahrung der gewaltsamen Grenzziehung zwischen Mensch und Mensch, die einen lehrt, sich zu wundern – über diesen Willen, bestimmte Subjekte von den anderen zu isolieren, zu disziplinieren, zu zähmen, gefügig zu machen. Wenn es eine Erfahrung gibt, die all jene eint, die mit dem österreichischen Maßnahmenvollzug in Berührung gekommen sind – seien es die Untergebrachten, die Angehörigen, Freundinnen, Freunde, die JuristInnen oder engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft –, dann ist es die: Dass der Vorgang der Grenzziehung alles andere als selbstverständlich ist. Vielmehr wundert man sich, man versteht nicht; man ist erstaunt, empört, verblüfft, entsetzt. Warum Kreaturen, die für etwas anderes geboren wurden, einsperren, wegsperren, isolieren von der Welt?
Wie kommt es dazu?
Ein bisschen mehr als 2300 Jahre nach Aristoteles‘ Tod stehen wir vor der Aufgabe, uns diesem Begehren nach dem Bann zu stellen, uns der Denkwürdigkeit des Wegsperrens bewusst zu werden und Fragen laut fragen zu lernen. Und diejenigen, denen die Gefängnismauer, egal von welcher Seite, erspart bleibt, müssen wir lehren, sich zu wundern – über die Sicherheitstüren, die Schleusen und den Zaun, die Mauer und das Plexiglas.
Woher rührt dieses Verlangen nach Abgrenzung des Eigenen von den „Unverbesserlichen“, dieser Wille zur Disziplinierung? Wodurch wird dieses Begehren nach der Verbannung genährt? Was bedeutet es für Gesellschaften weltweit, dass sie überzogen sind von den Bannmeilen der Unbelehrbaren und Unbestrafbaren? Welche Schlüsse sollen wir aus der Tatsache ziehen, dass die Psychiatrien, die forensischen Abteilungen und die Gefängnisse übergehen mit Menschen, die aus der politischen, sozialen und ökonomischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden – müssen?
Der Verdacht drängt sich auf – oder zumindest die Frage muss erlaubt sein: Ist es vielleicht eine Unfähigkeit, der wir uns hier gegenüber sehen? Die Unfähigkeit der Gesunden nämlich, den sogenannten „Vernünftigen“, die Unvernunft zu ertragen? Eine Unfähigkeit, die, so viel steht fest, Menschen mit psychischen Erkrankungen zu Vogelfreien macht? Und wenn dem wirklich so ist – was, wenn wir lernten, anders über die „Unbelehrbaren“ zu denken, zu fühlen, anders mit ihnen umzugehen, vielleicht sogar von ihnen zu lernen? Wäre damit nicht uns allen geholfen? Könnten wir dann nicht abgehen davon, Leute unter unhaltbaren Bedingungen auf unbestimmte Zeit gefangen zu halten, nur weil sie sich die falsche Krankheit ausgesucht haben? Könnten wir nicht vielleicht leben lernen mit dem Faktum, dass wir alle, manche mehr, manche weniger, meschugge sind?
Für die Dynamiken der Ausgrenzung von Betroffenen und die Tabuisierung psychischer Erkrankungen gibt es viele verschiedene kulturelle, soziale, und vor allem historische und politische Faktoren. - Es ist gewiss nichts damit gewonnen, sich mit der Forderung nach sofortiger Beendigung der beträchtlichen Benachteiligung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu begnügen. Das wäre ungefähr so aussichtsreich wie Mister Miyagis Versuche, Fliegen mit Essstäbchen zu fangen. Es bedarf des intensiven politischen Dialogs und einer gemeinschaftlichen Auf- und Umarbeitung unseres sozialen Gefüges, um die Situation der Menschen mit psychischen Erkrankungen tatsächlich zu verbessern. Und natürlich braucht es auch eine Aufklärung in den Schulen und ein selbstbewussteres Auftreten seitens der Betroffenen und ihrer Angehörigen; es braucht role models und filmische, literarische Auseinandersetzungen, um dieses Problem zu einem Thema allgemeinen Interesses zu machen.
Mitunter wird es aber auch darum gehen müssen, darüber nachzudenken, inwiefern unsere Begriffe von Vernunft und Menschsein einem anderen Zugang zu den „Wahnsinnigen“, den „Verrückten“, den „Grillenfängern“ im Weg stehen. Insbesondere wird man nicht um die zugegebenermaßen schwierige Denkaufgabe herumkommen, die Unvernunft nicht als Mangel an Vernunft zu denken, sondern als Positivum. So hatte es immerhin bereits Immanuel Kant in seiner Anthropologie für zumindest einen Teil der klassifizierten „Verrückungen“ gefordert. Die Unvernunft ist für Kant „etwas Positives, nicht bloßer Vernunftmangel“ (AA VII 218):
[E]s ist in der letzteren Art der Gemütsstörung nicht bloß Unordnung und Abweichung von der Regel des Gebrauchs der Vernunft, sondern auch positive Unvernunft, d. i. eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein sozusagen die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht […].
(AA VII 216; Hervorhebung i. O., M. M.)
Kants Beobachtungen scheinen nicht ganz un-sinnig zu sein. Immerhin, es ist nicht etwa so, als ob man im Krankheitsbild der Schizophrenie oder der Manie bloß Dysfunktionalität feststellen könnte; tatsächlich macht vieles von dem, was sich Menschen in einer akuten Psychose ausdenken, Sinn – wenngleich sich dieser Sinn nur indirekt, auf Umwegen erschließen lässt. Die Mehrzahl der Phantasien ist Lösungsansatz, die das Interesse einer Person bezeugt, aus ihrem Schlamassel herauszukommen. Auch in der wirrsten Eingebung bekundet sich ein nur allzu nachvollziehbares Bedürfnis; sei nach Anschluss, nach Gemeinschaft, nach Rettung oder Geborgenheit. Und so diffus die sich oft selbst überwerfenden Weltdeutungen auch auseinanderfließen mögen, so findet man doch immer noch einen Menschen vor, der sich, in allergrößter Verzweiflung und in brennender Angst, etwas zusammenzureimen versucht. Ich wage die These, dass sich noch in den abwegigsten Gedanken ein Mensch als das zu erkennen gibt, was Menschen nun einmal ausmacht: als soziales, leidenschaftliches und bedürftiges Lebewesen, dessen Existieren von Sinn und Bedeutung getragen wird. Wenngleich rudimentär und fragil, so stellt sich, wie in der Vernunft, auch in der Unvernunft ein gewisses Maß an Ordnung her, das sich erkennen lässt. Das Subjekt gibt sich ein Narrativ, setzt Ereignisse zueinander in Beziehung, verleiht seinen Handlungen Sinn.
Wollte man die Unvernunft hingegen als privativum, als Mangel an Vernunft verstehen – so wie es die bis heute offiziellen Bezeichnungen der „Geisteskrankheit“ und des „Schwachsinns“ nahelegen –, gerät man in gefährliche Fahrwasser. Denn dann verliert der Mensch dasjenige Merkmal, das ihn nach einer (freilich fehlgeleiteten) römischen Übersetzung des griechischen zoon logon echon zum Menschen macht: seine Ratio, seine Vernunft. Wenn das animal rationale, das vernünftige Tier, dem Wahnsinn verfällt, geht es seines Menschseins verlustig. Das animal irrationale ist nämlich kein Mensch mehr, sondern ein Tier, ein verrücktes noch dazu, das keine Ansprache braucht, keine Freundschaft ersehnt, keine Freiheit kennt und die Liebe nicht verdient.
Einer derjenigen, die einen entscheidenden Beitrag für eine positive Bestimmung der „Unvernunft“ geleistet haben, ist der Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger (1881-1966). Dieser rief, inspiriert durch die von Husserl und Heidegger begründete Phänomenologie, die sogenannte Daseinsanalyse ins Leben. Binswanger bemühte sich, mithilfe der neu gewonnenen phänomenologischen Terminologie zu beschreiben, wie sich die Welt für Menschen entwirft, die unter psychischen Erkrankungen leiden. Durch den Fokus auf die Frage, wie die Welt für jemanden mit einem bestimmten psychischen Krankheitsbild aussieht, wird die zugrundeliegende Krankheit nicht mehr als Störung oder als Abwesenheit von Welt in den Blick genommen, sondern als eine Erfahrung begriffen, derer man sich durch Einfühlung und Introspektion nähern kann. Das konkrete Erleben der Menschen ernst zu nehmen, ermöglicht es dem/der PsychiaterIn, von einem hierarchischen und bloß verurteilenden Verhältnis zu der Klientin Abstand zu nehmen, um stattdessen einen Verstehensprozess in Gang zu setzen, der nicht zuletzt für die Klientin unglaublich heilsam und erfüllend sein kann, - weil sie fühlt, dass man sich um sie bemüht und womöglich auch ein Stück weit ihre Welt verstehen gelernt hat.
Was Ludwig Binswanger mithilfe der Phänomenologie entwickelt, ist nichts anderes als das Grundgesetz jedes menschlichen Lebens: Glück empfinden wir dann, wenn ein zwischenmenschlicher Kontakt gelingt, man in ein gemeinsames Verstehen gelangt, ein Lächeln zusammen lächeln kann. - Ist es nicht eine einigermaßen verrückte Idee, zu glauben, dass man Menschen, wenn man sie auf unbestimmte Zeit einsperrt und sie dem Wahn anderer aussetzt, therapieren kann? Was soll genau dabei helfen? Der Kot an den Wänden, die Selbstverletzungen, der Geriatriefall im Zimmer nebenan oder die nächtlichen Schreie aus der Gummizelle?
Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die sich überraschend viel mit den „Verrückungen“ jedweder Art beschäftigt, hält, wenngleich vielleicht auch unfreiwillig, eine passende Bezeichnung für diese Denke bereit: die „Grillenfängerei“. „Wer bei seinen Einbildungen die Vergleichung mit den Gesetzen der Erfahrung habituell unterläßt (wachend träumt), ist Phantast (Grillenfänger)“, sagt er (AA VII 202). In meinen Augen ist es nichts anderes als das: Grillenfängerei, wollte man Menschen helfen, indem man sie mit anderen auf einen Haufen zusammensperrt und ihnen das verwehrt, was Menschen wirklich hilft: Verständnis, Nähe, Liebe, Lachen, Sonne – und noch so vieles mehr.
Die Katastrophe, die die derzeitige Situation im österreichischen Maßnahmenvollzug für immer mehr Menschen bedeutet, gebietet uns, einen anderen Weg einzuschlagen. Es geht nicht darum, naiv nach Friede, Freude und Eierkuchen zu verlangen oder psychische Erkrankungen zu romantisieren. Es geht darum, uns wünschen zu lernen, dass es mit der Stigmatisierung von psychisch Erkrankten endlich ein Ende nimmt, dass Menschen jene Hilfe zuteilwird, die sie brauchen und dass versucht wird, ihnen ein gutes und glückliches Leben zu gewähren. Die Ausgrenzung von Betroffenen und die Tabuisierung ihrer Erkrankungen machen Menschen nur noch unglücklicher – und kränker! – als sie es schon sind. Jeder und jede kann ein Stück dazu beitragen, dass dem bald nicht mehr so ist. Denn wenn diese Menschen vogelfrei sind – wenn es auf Bildungsgrad und Einkommen der Familie zurückfällt, ob eine psychische Erkrankung akzeptiert und behandelt wird, wenn es darauf ankommt, ob man mit den „guten“ oder den „schlechten“ PolizistInnen in der Psychose in Kontakt kommt, wenn es darauf ankommt, ob man sich mehr als nur eine/n PflichtverteidigerIn leisten kann, um dem Wegsperren zu entgehen – dann sind wir alle vogelfrei. Denn alle von uns können psychisch krank werden. Nur haben nicht alle von uns das Glück, sich das Unglück auch leisten zu können.