Die Sache mit der Hoffnung

Interview mit Kerstin und Marco H.

Der jüngste Suizid in einer Maßnahmenvollzugsanstalt liegt nur wenige Monate zurück. Am 24. Oktober 2021 nahm sich Michael H. (42) in Stein in einer videoüberwachten Zelle das Leben. Wenige Monate zuvor hatte er schon einmal den Suizid versucht.

Marco und Kerstin H., Bruder und Schwägerin, erzählen von ihrer Bestürzung über das systemische Versagen sämtlicher Behörden und Institutionen im Umkreis psychisch Betroffener in Österreich. Michael H. war mehr als 4 Jahre im Maßnahmenvollzug. Das Strafmaß der gefährlichen Drohung (8 Monate) hatte er zum Zeitpunkt seines Todes bereits mehr als 3 Jahre abgesessen.

Der Text wurde kürzlich im Freigänger veröffentlicht.

Wie geht’s Ihnen, wie waren die letzten Wochen?

Kerstin H.: Es tut gut, die Trauer in Kraft umzulegen. Vom Traurigsein hat der Michi nichts. Und ich weiß, dass er, wo auch immer er jetzt ist, sich freut, dass man das jetzt macht. Dass es nicht umsonst war. Wir haben uns im Kreis der Familie natürlich besprochen, ob wir an die Öffentlichkeit gehen wollen, denn klar ist, dass man mit einer solchen Entscheidung natürlich auch etwas lostritt und alle einverstanden sein müssen. Man ist dann ja auch mit dem Makel konfrontiert.

Es ist ja nicht nur: Suizid und Gefängnis, sondern auch Maßnahmenvollzug. Das ist ja noch ein größeres Stigma. Woher nehmen Sie die Kraft, sich öffentlich zu engagieren?

Kerstin H.: Eigentlich gibt es kein Stigma in Bezug auf den Maßnahmenvollzug, denn niemand kennt sich damit aus. Niemand weiß in Wahrheit, was der Maßnahmenvollzug in Österreich ist und nicht einmal ich hab das gewusst.

Marco H.: Dass man so enden muss in Österreich, das ist für mich das Schlimme. Es gibt sicher noch viel mehr Leute, die sowas mitmachen müssen. Wir machen das vor allem, damit mein Bruder nicht sinnlos gestorben ist.

Was war der Michael für ein Mensch?

Kerstin H.: Der Michi war so ein lieber Mensch, der war durch und durch lieb. Der hätte nicht einmal einen Kaugummi gestohlen. Da hat jeder von uns mehr Revoluzzer in sich, mehr Potenzial, Probleme zu kriegen als der Michi.

Der Michi war einfach anders. Er war immer hochemotional. Er war so alt wie ich, aber eigentlich wie ein Kind. Er war an allem interessiert und fasziniert, aber auch oft sehr laut in seiner Reaktion, vielleicht auch oft ein bisschen übersprungsmäßig. Das hat dann oft Scham hervorgerufen, wenn man zum Beispiel in einem Kaffeehaus gesessen ist, und er sich über etwas aufgeregt hat. Er war dann immer gleich emotional und laut – eben wie ein Kind. Und das ist in unserer Gesellschaft einfach nicht gefragt – Anderssein ist nicht.

Marco H.: Man hat sicher vieles übersehen…

Weil Sie gesagt haben, man hätte etwas übersehen – was meinen Sie damit konkret?

Marco H.: Generell, es sind Sachen passiert schon in der Schule. Wir haben Lehrer gehabt, die haben uns gedroschen. Die würden heute im Gefängnis sitzen. Das gibt’s heute gar nicht mehr. Bei uns in der Steiermark haben sich viele schon das Leben genommen. Von meinem Freundeskreis etliche. Weil sie mit dem Leben nicht mehr zurechtgekommen sind. Da hat das Ganze schon angefangen. Es sind dem Michi dann viele Sachen widerfahren im Leben. Es hat einen sexuellen Übergriff gegen Michael gegeben. Am Anfang haben wir immer geglaubt, er will einfach nicht. Er wollte nicht aufstehen, in die Arbeit gehen… Aber dann, wie wir das gewusst haben, ist es eh wieder bergauf gegangen.

Wie kam Michael in Kontakt mit Polizei und Justiz?

Marco H.: Es hatte eine Anzeige durch seine Freundin gegeben, daraufhin wurde ein Betretungsverbot ausgesprochen. Dann gab es ein Hin und Her zwischen den beiden. Er wollte die Frau wieder besuchen, aber dann war da ein anderer Mann, und er hat angeklopft und gesagt: „Ich bring euch um.“ Daraufhin ist er aber wieder gefahren.

Kerstin H.: Weil die Gerichtsverhandlung wegen gefährlicher Drohung als Hochrisiko-Verhandlung vom Bewährungshilfe-Verein Neustart eingestuft worden war, und der Anwalt vom Michi noch nicht da war (er hatte verschlafen oder verschwitzt), wurde der Michi vor Prozessbeginn zwei Stunden in Gewahrsam genommen. Man hat ihn wie einen Schwerstverbrecher abgeführt. Das hat er nicht verstanden, warum man ihn so behandelt hat. Der Anwalt hat dann, wie er eingetroffen ist, nicht gescheit reagiert. Er hätte sehen müssen, dass der Michi zu diesem Zeitpunkt nicht prozessfähig war und hätte um Vertagung bitten müssen. Der Michi war aufgebracht und hat Sachen gesagt, die er nicht vor Gericht hätte sagen sollen. Er war generell in einem schlechten Zustand, war schon wieder in einer Manie. Eigentlich war er nicht verhandlungsfähig. Aber der Anwalt hat das alles irgendwie auf die leichte Schulter genommen. Der Michi hat mir erzählt, dass er während der Verhandlung sogar mit dem Handy gespielt hat.

Er ist dann in Untersuchungshaft gekommen, für drei Monate circa. Dort wurde er immer manischer, und er hatte auch überhaupt nicht verstanden, warum er da war. Er hatte auch keinen Zugang zu einer psychiatrischen Versorgung. Dann wurde ein Gutachter bestellt, der Herr Dr. W. aus Graz. Der war eine Viertelstunde bei ihm und das war’s dann. Das Urteil war verheerend. [Später erzählt Kerstin: Dr. W. ist ein Bekannter der Familie. Nach der Verhandlung hat sich die Mutter von Michael zu erkennen gegeben. Daraufhin hat Walzl versucht, sein Gutachten zu revidieren, aber der Richter hat es nicht mehr anerkannt.]

Nach der Hauptverhandlung im Sommer 2015 wurde Michi nach § 21/2 verurteilt und in die JVA Garsten überstellt.

Wie ging es dann weiter im Maßnahmenvollzug?

Michael wurde von Gutachtern immer wieder bescheinigt, dass er  eigentlich entlassen werden sollte. Weil schon Haftschäden aufgetreten waren, er hatte schon den Zucker bekommen [Anm.: Diabetes, M.M.]; und es ging laut sämtlichen Gutachtern keine Gefahr mehr von ihm aus. Vonseiten der Anstalt aber wurde das nicht empfohlen und das Gericht folgte der Einschätzung der Anstaltsleitung. Es waren oft Kleinigkeiten, die für die Begründung einer Verlängerung angeführt wurden. Ständig hieß es, noch ein Jahr mehr. Das hat dem Michi nach und nach alle Hoffnung genommen.

Nach Stein ist er 2019 gekommen, weil er in Garsten sehr viel ärztliche Betreuung gebraucht hat und es in Garsten keine Krankenanstalt gibt. Das bedeutet, dass die Anstalt zusätzlich Ausgaben hat. Deswegen kam es zu dieser Entscheidung - auch gegen den Widerstand der Familie, für die es natürlich einen großen Unterschied machte, wie lang man fahren muss, um ihn zu besuchen. In Stein war dann die Verzweiflung schon groß.

Wie wirkte sich die gegenwärtige Pandemie auf Michael Situation aus?

Marco H.: Mit Corona wurde es schwerer, ihn zu besuchen, es gab keine Psychotherapie mehr durch den Therapeuten, den die Familie eigens von außerhalb kommen ließ…

Kerstin H.: Irgendwo war Corona sicher auch ein Vorwand, weil es die Dinge bequemer für die Anstalt gemacht hat. Der Umstand mit dem Plexiglas machte es für den Michi noch viel schlimmer. Umarmungen haben ihm wahnsinnig gefehlt.

Sie haben in Ihren bisherigen Interviews den Umgang der Behörden stark kritisiert. Erzählen Sie uns, was passiert ist.

Kerstin H.: Im August dieses Jahres hat der Michael zum ersten Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin kam er auf die Baumgartner Höhe [Anm.: Otto-Wagner-Spital Wien, M.M.]. Dort ging es ihm besser, er wurde gut betreut, menschlicher behandelt. Wir hatten gehofft, dass er dort länger bleiben könnte. Aber dort war auch wieder das Thema, dass die Anstalt für die dabei entstehenden Kosten zahlen muss und sie haben ihn wieder zurückgebracht. Jeder hat gewusst, dass er schwerst suizidal ist. Und der Michi selbst hat es immer wieder gesagt. Dass er dann gleich wieder zurück musste, hat ihn schwer getroffen. Das hätte nicht sein dürfen.

Was ich da so schlimm finde, ist, dass man als Angehörige nicht eingebunden wird, vielleicht hätten wir was dazuzahlen können. Wenn man weiß, dass ein Mensch nicht mehr kann, dass er wirklich Hilfe braucht, dann darf doch Geld nicht darüber entscheiden.

Zurück in Stein ist er nicht in eine normale Zelle gekommen. Die Mutter eines anderen Mithäftlings hat uns erzählt, dass er, wie  er gehört hat, in welche Zelle der Michael kommt, ihm noch viel mehr leidgetan hat. Das ist wahrscheinlich so etwas wie eine Gummizelle oder ein Panikraum. Es ist doch Irrsinn, einen Menschen, der eh schon am Ende ist, dann in eine Zelle zu sperren, wo es nichts gibt, wo kein anderer ist, da dreht er ja noch mehr durch.

Am Vormittag hat er mit seiner Mutter telefoniert und ihr erzählt, dass der psychologische Dienst ihn noch ein Jahr länger da behalten wollen würde. „Ich halt das nicht mehr aus, ich schaff das nicht“, hat er ihr gesagt. - Wenn diese Person das wirklich gemacht hat, dann ist auch sie zur Verantwortung zu ziehen, denn das muss einer geschulten Person klar sein, dass man einem Menschen in einer solchen Krisensituation so etwas nicht sagen kann.

Wenn Sie sich was wünschen könnten, was wäre das?

Kerstin H.: Wenn viel mehr Leute ehrlich darüber reden würden, würd es viel mehr Leute geben, die merken, dass die Schicksale ähnlich sind, und man würd sich nicht so alleine vorkommen.

Es gibt viele Probleme, die die Justizministerin angehen muss. Es sollte nicht davon abhängig sein, ob ich Geld hab, ob ich schwarz, grün oder braun bin, und es muss auch so sein, dass jeder die gleichen Chancen hat. Leider hängt vieles noch vom Geld, Bildungsstand und sozialem Status ab.

Marco H.: Allgemein sollte man sich an Deutschland orientieren, besonders die Sicherheitsverwahrung in der Anstalt Straubing in Bayern. Dort werden Leute auf das Leben danach vorbereitet, sie können einen Beruf erlernen, Sport ausüben… Man sollte Menschen nicht nur wegsperren, sondern ihnen wirklich helfen. Dass man die sogenannten „Gefährder“ zu den Psychotikern dazusperren will, ist ein No-Go. Und niemand kommt als Mörder oder Dieb auf die Welt. Das muss man sich anschauen. Da gibt es so viel in der Gesellschaft, was nicht passt.

Kerstin H.: Ein großes Problem im österreichischen Maßnahmenvollzug sind die älteren Untergebrachten; es gibt Geriatriefälle, die nicht unter den sehr stressigen Bedingungen einer Maßnahmenvollzugsanstalt leben sollten. Ganz zu schweigen von der Drogenabhängigkeit in den Gefängnissen. Die Begutachtungssituation muss auch endlich besser werden.

Würden Sie sagen, dass diese Faktoren beigetragen haben dazu, dass der Michael nicht mehr lebt?

Kerstin H.: Bestimmt. Es ist nicht so, dass wir uns jetzt hinstellen und sagen, dass der Michi sofort wieder hätte freigelassen werden sollen. Aber dass, was er [im Maßnahmenvollzug, M.M.] erlebt hat, hat ihn nicht verbessert, sondern das hat ihn in Wahrheit in den Tod getrieben. Das hat ihn noch manischer gemacht, noch psychotischer gemacht – da hat sich nichts verbessert für ihn.

Das System funktioniert so nicht. Gerade jetzt, wo das mit dem Michael war, führt man Gespräche mit Menschen, die mit dem Thema noch nie was zu tun gehabt haben. Man hört dann sowas wie: „Das ist halt, weil der das und das gemacht hat“. Das Thema ist: Egal, ob man das gut findet oder nicht, was jemand getan hat, aber es ist trotzdem noch ein Mensch. Dass Menschen unmenschlich behandelt werden, darf nicht Teil einer Gefängnisstrafe sein. Da ist egal, ob das der Maßnahmenvollzug ist oder ein normales Gefängnis ist, das ganze System hat einen Fehler. Das sieht man ja auch am Ende der Geschichte vom Michi: Es darf nicht passieren, dass man bei einem Menschen, der sich eh schon fünf Tage zuvor versucht hat sich mit Schuhbändern zu erwürgen, ein Wäschenetz in seiner Zelle vergisst. Man hat die Situation einfach nicht im Griff gehabt, und das in einer videoüberwachten Zelle. Natürlich macht es keinen Sinn, den Einzelnen vor Gericht zu zerren und nur auf den mit dem Finger zu zeigen. Es sollte nicht einer allein dafür gerade stehen, aber wenn es so ist, dass er einfach nicht mehr kann, verroht ist in seinem Job oder es ihn einfach nicht mehr interessiert, dann darf er dort auch nicht mehr arbeiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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