…wenn ein Alkoholiker ins Zimmer wankt.
Letztens traf ich mich mit J., einer alten Freundin von mir. Die Schilderungen ihrer Erfahrungen von der Notschlafstelle, in der sie neuerdings arbeitet, haben mich so bewegt, dass aus dem Freundinnenabend ein Interview wurde.
Auf den ersten Blick haben die Fragen, die wir uns an diesem Abend stellten, nur indirekt mit dem Maßnahmenvollzug zu tun. Tatsächlich ist das Problem der Wohnungslosigkeit aus dem Leben von psychisch Betroffenen kaum wegzudenken. Und leider ist das Instrument der Notschlafstellen eine von vielen Institutionen des sozialen Netzes, die es oft nicht oder nur ungenügend schaffen, die Situation von psychisch Betroffenen zu berücksichtigen.
Bei mir verfestigt sich im Übrigen immer mehr der Eindruck, dass es sich bei psychiatrischen Fällen um ‚Fälle‘ im wahrsten Sinne des Wortes handelt; sie fallen durch sämtliche Maschen durch – selbst durch niedrigschwellige Angebote wie Notschafstellen. Die angespannte Ressourcenlage macht die Arbeit der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sehr schwierig. Meine Freundin erzählt mir von KollegInnen, die ein sehr restriktives Verhalten gegenüber den NutzerInnen – so werden die Personen genannt, die das Angebot der Notschlafstelle in Anspruch nehmen – an den Tag legen. Beispielsweise wird von manchen der MitarbeiterInnen das Essen statt auf einem Teller bloß auf einer Serviette ausgehändigt. Das ist der Punkt, an dem wir das Aufnahmegerät einschalten.
M.: Du hast eben erzählt, wie jemand deiner KollegInnen den Leuten die Benutzung von Geschirr verweigert. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass es – neben Zynismus und Machtmissbrauch – doch sicher auch an der Überlastung von SozialarbeiterInnen liegt, dass den Menschen dort, wo sie sich eigentlich sicher fühlen sollten, ein zuweilen ziemlich eisiger Wind entgegenweht. Was, denkst du, könnte zur Entlastung der SozialarbeiterInnen beitragen? Wie wichtig wäre hier eine ausreichende finanzielle Unterstützung der sozialen Arbeit?
J.: Es würde natürlich total viel ändern. Die Strukturen passen einfach nicht und damit ist die Arbeitsbelastung sehr hoch. Das führt viele ins Burnout. Denn du siehst das Leid und das Elend und du hast nicht die Ressourcen um zu helfen. Weil du zu wenig Zeit zur Verfügung gestellt bekommst, zu wenige Materialien usw. Du machst die Erfahrung, dass du mit dem, was du vom Fördergeber bekommst, nicht auskommst, um deinen Idealen entsprechend helfen zu können. - Was natürlich der Anspruch ist von Personen, die in der Sozialarbeit tätig sind. Es ist ziemlich frustrierend, dass es an grundlegenden Dingen mangelt, z.B. dass es keine Zahnpasta gibt. Ich habe unlängst privat Sachspenden gesammelt, aber irgendwo find ich es schade, dass so etwas notwendig ist. Und eigentlich ist es auch zusätzliche Arbeit, die Spendengeschichten zu koordinieren, die Spenden zu sortieren und dergleichen.
M.: Meinst du also, dass ein paar Leute das verinnerlichen und frustrieren ob der Tatsache, dass zu wenig da ist und diese Frustration an die KlientInnen weitergeben? Weil du auf einer sehr begrenzten Anzahl an Ressourcen sitzt und die verteidigen musst? So nach dem Sprech „Alle die über diese Grenzen des Möglichen hinausgehen, sind die Sozialschweine?“ Ist das auch Thema?
J.: Klar. Entweder du engagierst dich zusätzlich, wenn du merkst, die Ressourcen nicht ausreichen oder du resignierst und wirst auch so ein bisschen kalt, weil du dieses Neinsagen dir zwangsgedrungen angewöhnst.
M.: Führt dieses Gefühl, auf sehr begrenzten Ressourcen zu sitzen, zu einer schlechteren Behandlung von „aufwändigeren“ Fällen wie PsychotikerInnen es etwa sind?
J.: Ja, das trifft zu. Oft bräuchten die aber auch einfach ein Einzelzimmer. Ich glaub, oft könnten wir die da behalten, wenn sie es ruhiger hätten, eben im Einzelzimmer – immer vorausgesetzt natürlich, sie nicht selbst- oder fremdgefährdend. Aber das Schlafen in einem Mehrbettzimmer ist auch für Leute, die psychisch stabil sind, ziemlich anstrengend. Es ist für niemanden eine angenehme Schlafsituation, aber wenn du dann auch noch eine Sozialphobie hast oder irgendwie psychisch angeknackst bist, ist so ein Mehrbettzimmer eine ungleich größere Belastung. Das führt auch dazu, dass Leute bei uns psychotisch werden oder wieder in eine Psychose zurückkippen. Bei den Suchtkranken ist es oft so, dass sie nicht mit den Alkoholikern im Zimmer sein wollen, weil sie sagen, dass es sie an ihre Kindheit bei den alkoholkranken Eltern erinnert und sie triggert, wenn ein Alkoholiker ins Zimmer wankt. Zu einem gewissen Ausmaß kann man darauf Rücksicht nehmen, aber wir sind halt meistens voll und dieses Zimmer- und Bettwechseln ist ein großer Aufwand. Und auch wegen Corona sollen wir das nicht so oft machen. Viele würden oft etwas anderes und mehr brauchen. In Oberösterreich gibt es ein Projekt mit Containern, wo so Einzelcontainer für Leute, die psychisch krank sind und sozusagen nicht gesellschaftsfähig sind, sodass die in ihrer Psychose in einem Einzelzimmer sein können.
M.: Wer darf denn bei euch grundsätzlich rein, wer nicht?
J.: Jeder mit Nächtigungsschein und wir nehmen aber auch Notnächtiger. Den Schein bekommst du vom P7, das ist der zentrale Wohnungslosendienst, die haben eine Übersicht über alle Betten in Wien.
M.: Was musst du dafür tun oder tun können, um mit dem P7 in Kontakt zu kommen?
J.: Über Streetworker, die über das Kältetelefon verständigt werden. Also wenn du jemand auf der Straße schlafen siehst und du das Kältetelefon anrufst, kommen dort SozialarbeiterInnen hin und machen der Person den Vorschlag, das Winterpaket zu nutzen.
M.: Rein gefühlsmäßig hätte ich jetzt den Verdacht, dass es schwieriger ist, verwirrte Personen zum Winterpaket zu bringen? Stimmt das?
J.: Es kommt vor, dass Streetworker die Leute zuweilen auch bis vor die Tür begleiten. Aber das passiert nicht so oft. Mein Eindruck ist der, dass es eigentlich es dann doch auch relativ beeinträchtigte Menschen zu uns schaffen.
M.: Sommer – Winter, gibt es da einen Unterschied? Wie ist es denn im Sommer?
J.: Im Sommer gibt es für nicht anspruchsberechtigte Personen keine Schlafplätze. Anspruchsberechtigt sind nur die, die im Sozialsystem in Österreich aufgefangen sind – wenn du hier gemeldet bist, wenn du lange genug in Wien warst. Da geht es auch nach Bundesländern – z.B. zwischen Niederösterreich und Wien. Wenn du in NÖ gemeldet bist, hast du keinen Anspruch auf einen Wohnplatz, kannst nicht in ein Chancenhaus oder in die Gruft. Die ganzen Sachen, die im Sommer offen haben in Wien, sind nur für in Wien gemeldete Menschen.
M.: Du sagst gemeldet – wie kann man sich melden, wenn man keine Wohnung hat?
J.: Sehr viele melden sich bei Sozialeinrichtungen, d.h. die sozialen Vereine geben Meldeadressen aus.
M.: D.h. ich muss in irgendeiner Weise an einen Verein angegliedert sein, ich muss Kontakt aufgenommen haben oder jemand mit mir, damit ich anspruchsberechtigt bin.
J.: Ja – und es dauert ein paar Monate, bis das durch ist. Im Winter werden zusätzlich Betten bereitgestellt und Notschafstellen, die nur im Winter geöffnet sind. Die wurden seit Corona auch über den Sommer verlängert, weil man davon ausgegangen ist, dass die Leute potenziell infektiös sind. Da kommen jeden Tag Mails, von wegen „Herr X ist positiv und hat sich der Quarantäne entzogen – bitte nicht aufnehmen“.
M.: Hast du das Gefühl, dass sich mit Corona etwas geändert hat an der Art und Weise, wie mit den Leuten umgegangen wird?
J.: Eigentlich muss ich sagen, dass Corona für die niederschwellige Wohnungslosenhilfe Vorteile hatte. Für diejenigen, die einen Schlafplatz bei uns bekommen, sind mehr Betten frei, weil wir dürfen nicht mehr so viele Leute in ein Zimmer packen. Davor waren es Sechsbettzimmer, jetzt dürfen maximal vier Leute in einem Zimmer sein. Weihnachtsfeiern, Filmabende sind leider untersagt. Wir hätten das eigentlich eh coronakonform gemacht, aber das ging trotzdem nicht.
M.: Wie tun sich psychotische Personen mit den Coronatests?
J.: Das ist nicht nur ein Problem mit psychotischen Menschen, sondern eigentlich gibt es viele, die Angst vor der Impfung haben und Corona als Zumutung empfinden. Wir mussten auch einmal Hausverbot an eine Person gegeben, die die Testung verweigert hat und auch die Maske. Eine Kollegin hat mir einmal erzählt, dass eine Person totale Impfangst gehabt und in der Nacht von Nadeln geträumt hat. Sie hatte Paranoia, dass sie zwangsgeimpft wird – von uns. Prinzipiell schlagen wir natürlich den Leuten vor, sich impfen zu lassen, aber in dem einen Fall haben wir uns entschlossen, nicht mehr auf die Person einzuwirken, weil sie das zusätzlich belasten würde. Die Impfpflicht sieht jetzt Gott sei Dank eh auch vor, dass psychisch beeinträchtigte Menschen nicht geimpft werden müssen, so es für diese Personen wirklich eine unüberwindliche Hürde darstellt.
M.: …was natürlich auch blöd ist, weil sie zur Risikogruppe gehören. Für mich wäre da auch das Thema da drinnen – du bist als Wohnungslose/r dem Wetter ausgeliefert, so vielen verschiedenen Stellen gegenüber, anderen Menschen, dass sie dir dein Frühstück reichen und manchmal hängt es auch von Leuten ab, die vielleicht gerade nicht die beste Laune haben – und dann kommt auch noch das Thema Corona hinzu.
J.: Ja, genau. Deswegen haben wir im Team besprochen, dass wir die Person nicht mehr auf die Impftermine hinweisen, weil sie bereits das als Bedrohung empfindet. Und dann wär es gut, wenn jemand mit viel Zeit und ganz viel Vorsicht versucht, ihr diese Angst zu nehmen.
M.: Kannst du das Gefühl, dass es deine zeitlichen Ressourcen zulassen, dass du dich einer Person wirklich widmest und eine Beziehung aufbauen kannst, die auf Vertrauen basiert?
Manchmal schon. Am meisten Zeit erfordern die Aufnahmen, also wenn neue NutzerInnen ins Haus aufgenommen werden. Wenn wir an einem Tag viele Aufnahmen haben, dann ist wenig Zeit. Heute war ein richtig ruhiger Tag. Da hab ich viele Gespräche führen können mit den NutzerInnen. Leider sieht unsere Jobbeschreibung eigentlich gar nicht vor, dass wir die Leute psychosozial betreuen. Der Anspruch ist eigentlich nur: warm, satt, sauber.
M.: Gibt es jemanden, der/die dafür zuständig ist, dass abseits von warm-satt-sauber vielleicht auch noch glücklich dabei ist, oder zumindest hoffend?
J.: Es gibt ja die Stellen, an die die Leute angebunden sind, und über die sie zu uns kommen. Da ist jeweils eine Sozialarbeiterin, ein Sozialarbeiter zuständig. Wie viele Kapazitäten die Leute dort wiederum haben, das ist dann wieder eine andere Frage. Also zum Beispiel bei der SoRüBe (Sozial- und Rückkehrberatung) weiß ich, dass die Ressourcen sehr knapp bemessen sind und es eher um Sachliches geht (Schlafplatz, Rückkehr ins Heimatland). Dass den Leuten dort zugehört wird, was ihre Sorgen sind, nein, das glaub ich nicht. Es sind eher Vermittlungsdienste und dergleichen. PSD ist grundsätzlich auch noch da, aber agiert nur, wenn die Nutzerinnen das selbst wollen. Dann gibt es noch Amba-Med, das ist speziell für psychische Krankheiten von nichtversicherten Personen. Dort gibt es PsychologInnen und PsychiaterInnen. Allerdings nur für ÖsterreicherInnen und Leute mit Aufenthaltstitel in Österreich – keine EU-BürgerInnen oder Leute, die noch im EU-Verfahren sind.
M.: Das setzt natürlich voraus, dass man zumindest schon eine soweit „erfolgreiche“ Karriere mit der eigenen Krankheit durchgemacht hat, dass man bereit ist, diese Stellen von sich aus aufzusuchen… Bei mir klingt da bei dem Ganzen durch: Es gibt für jedes Problem eine Stelle und es existiert ein Filtersystem, das regelt, wo wer hingehen darf. Aber so dieses Ding, dass dir jemand als Mensch begegnet und zuhört, dass irgendjemand da ist, das du gerade nicht mehr KlientIn bist und du dich in einem ebenbürtigen Gespräch mit jemand unterhältst – gibt es das?
J.: Ich glaube schon, dass wir das teils ganz gut hinkriegen. Aber es ist schon so, dass es Menschen gibt, die sich besser darin sind, sich darum zu kümmern und darum zu bitten. Bei uns wohnen halt 35 Leute und ich kenne manche besser als andere. Beziehungsarbeit sehe ich als irrsinnig hilfreich an, damit das Zusammenleben besser passiert. Es gibt aber schon auch Leute, die nur depressiv im Bett liegen. Dann geh ich zu ihnen und frag mal nach, ob sie was brauchen, ob ich was für sie tun kann. Da kommt dann meistens nichts. Ich muss halt schon sagen, dass ich nicht die Kapazitäten und die Ausbildung hab, sie aus dieser Depression rauszuholen und sie zu aktivieren. Sie müssen das schon auch wollen und ich kann meinerseits das Angebot machen, für sie da zu sein, aber ob sie das dann annehmen oder nicht, liegt an ihnen. Wenn jetzt alle eine psychosoziale Betreuung wollten, dann wären wir dafür einfach nicht genug MitarbeiterInnen, das geht sich einfach nicht aus. Was ich mache, ist, dass ich mit den Menschen Entlastungsgespräche führe – wenn es jemand schlecht geht, dnn gehe ich zu der Person hin und biete an, mit mir darüber zu reden.
Natürlich sollte jede Psychologin und jede Sozialarbeiterin einfach auch nur mal zuhören – die Person einfach mal reden lassen über ihre Sorgen. Dass Problem ist, dass gerade bei Leuten, die so niederschwellig angebunden sind, nicht gewährleitet ist, dass die betreuenden Personen auch immer vor Ort sind. - Sei es, dass ich einmal längere Zeit nicht da bin, sei es, dass der Nächtigungsschein abläuft. Was diese Leute eigentlich bräuchten, wären beständige Beziehungen. Es ist irgendwie schade – man baut eine Beziehung zu dem Klienten auf, aber die Hilfe, die wir geben können, ist oft nur kurzfristig. Damit sich langfristig etwas im Leben eines Menschen ändert, braucht er/sie das Gefühl, das diese Person, die ihm/ihr hilft, auch da bleibt. Also eigentlich geht es schon um sowas wie ein soziales Netz. Und das ist das Problem beim professionellen Helfen: Du musst dich insofern abgrenzen, als dass die Personen nicht abhängig werden sollten von dir, weil du nicht immer für sie da sei kannst, weil du nicht die Person bist, die er/sie am Abend anruft.
Wie wir davon reden, erinnere ich mich an einen Mann, den ich an einem meiner ersten Arbeitstage kennengelernt habe. Wir haben lange geredet; er hat mir erzählt dass seine Mutter gerade gestorben ist. Ich habe ihn einfach reden lassen. Und immer wenn ich ihn gesehen habe, hab ich mich kurz mit ihm unterhalten. Er hat von seiner Freundin erzählt, und von seinen Kindern, von seiner Sucht. Zu dem Zeitpunkt hatte er Substitol nur geschluckt. Und er erzählte mir, dass er Angst hat, wieder etwas zu nehmen. Und dann kam es, dass ich eine Woche nicht da war. Und wie ich wieder gekommen bin, ist er so hineingewankt, hatte offensichtlich wieder etwas genommen. Es ist ziemlich schwer, in der Notschlafstelle abstinent zu bleiben, wo viele andere auch was nehmen. Aber es hat ihm wahrscheinlich auch das gefehlt, dass da wer war, der mit ihm redet. Dass da jemand ist, mit dem man das reflektieren kann, wenn er mit seinen Gefühlen nicht klarkommt und in der Situation ist, dass er gern wieder was nehme würd.