Homo homini lupus.

Ein Kommentar zum Prozess gegen den Mann mit der Wolfsmaske.

 

Ein Mann vergeht sich 2019 an einem Kind. Mitten am Tag. Mitten in einer deutschen Großstadt. Das elfjährige Mädchen wird brutal vergewaltigt. Die Bestialität dieses Verbrechens wird durch die Maske, die der Täter trägt, noch unterstrichen: Es ist ein Wolf, der die Zähne fletscht. Diese Tat erinnert an Szenen aus dem Tatort, der uns Sonntagabend Gänsehaut macht. Aber das, was mit diesem Mädchen geschah, ist real.

Der sogenannte „Wolfsmasken-Prozess“ hat in der deutschen Gesellschaft für eine hitzige Diskussion gesorgt. Denn der Mann war bereits aufgrund von Sexualdelikten zum Maßregelvollzug verurteilt worden und in einer Lockerungsstufe, als er sich an dem Kind verging. Auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Es ist Tat, die unsägliches Leid für die Betroffene und ihre Angehörigen bedeutet. Eine Tat, die wir, wäre sie bloß Fiktion, unseren Kindern nicht zumuten würden.

Nun geht der Prozess in die zweite Runde und abermals werden die Fragen nach Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung laut. Gestern wurde das 2021 ergangene Urteil gegen den Täter vom Karlsruher Bundesgerichtshof aufgehoben.  Zwar wird der Schuldspruch nicht aufgehoben, aber die anhängliche Freiheitsstrafe (im ersten Urteil 12 Jahre, mit anschließender Sicherheitsverwahrung) steht neuerlich zur Verhandlung. Es ist möglich, dass diese Wunde, die mit der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils aufbricht, Auswirkungen auf die künftige Rechtsprechung vielleicht nicht nur Deutschlands haben wird. Denn in vielen Punkten erinnert der Fall an den „Eisenstangen-Mord“ in Wien 2016, bei dem eine Frau am Brunnenmarkt auf grausame Weise ums Leben gekommen war. Auch damals war der Täter der Justiz bekannt gewesen – doch es hatte ein psychiatrisches Gutachten gegeben, das ihn für ungefährlich erklärt hatte.

An den Folgen dieses Falles beißt sich das österreichische Justizsystem bis heute die Zähne aus – seit 2016 sind die GutachterInnen in ihren Gefährlichkeitsprognosen auf allergrößte Vorsicht bedacht. Denn obwohl der Verfasser des damaligen Gutachtens niemals zur Rechenschaft gezogen wurde (Addendum-Artikel: „Warum der Maßnahmenvollzug gescheitert ist“, 2018), möchte niemand für die Freiheit eines Menschen verantwortlich zeichnen, die eine solche Tat ermöglicht. Seit 2016 hat die Zahl der Menschen, die im Maßnahmenvollzug sind, um 25% zugenommen[1] (2016: ca. 800, 2019: 1022). Die Delikte, wegen derer Personen eingewiesen werden, sind kleinere als früher. Die Anstalten sind derart überfüllt, dass mittlerweile reguläre Justizanstalten als „Therapie“-Orte herhalten müssen. Durch Corona hat sich der Druck auf die chronisch unterfinanzierten Psychiatrien in Österreich noch verschärft; die schweren Fälle müssen weichen und kommen in die Forensik. Die oftmals angekündigte und noch öfter aufgeschobene Reform des Justizsystems sieht unter anderem eine Entlastung der Anstalten durch einen Ausbau der betreuten Wohngemeinschaften vor, in denen jene, denen es zugetraut wird, eine „Resozialisierung“ erfahren sollen. Außerdem ist angedacht, dass nur mehr Taten, die mit einem Strafmaß von mindestens drei Jahren belegt sind, zu einer Einweisung führen können. Tage wie diese, an denen wir an das Leid der Opfer erinnert werden, lassen Zweifel aufkommen, ob das der richtige Weg ist.

Auch ich, die ich mich für jene Menschen einsetze, die sich im Maßnahmenvollzug befinden, und dessen Missstände ich aufzuzeigen versuche, weiß in solchen Momenten nicht weiter. Ich möchte niemals jene aus den Augen verlieren, denen durch die Taten anderer ein Unrecht widerfahren ist. Und auch ich verspüre diesen Impuls, wenn ich an die Wolfsmaske denke. Hätte diese Tat nicht verhindert werden können? Hätte man den Mann denn nicht wegsperren müssen – dürfen? Und – auch diese Frage ist nicht rhetorischer Natur – was wiegt die Freiheit jenes Mannes gegen das Leben, das dieses Kind leben lernen muss?

Es sind nicht Zahlen, die uns weiterhelfen können. - Die Zahlen derer, die sich einer schweren Körperverletzung schuldig gemacht haben, weil sie das Pech hatten, in ihrer Psychose auf eine völlig ungeschulte, eskalative Polizei zu treffen (und jede Verletzung, die einem/einer Polizisten/Polizistin bei einem Einsatz widerfährt, ist nach österreichischem Recht als schwer zu werten). Denn was, wenn das bloß der Vorbote war, von etwas Größerem, von etwas, das unter keinen Umständen jemals in Kauf genommen werden darf? Und uns hilft auch nicht der Hinweis, dass es liebende Menschen sind, die man einsperrt, Menschen, die leiden und es sich nicht ausgesucht haben, zu leiden. Denn es ist gerade ihr Leiden, vor dem wir Angst haben. Was also kann uns stichhaltige Hinweise liefern für das Verhalten, das wir den sogenannten „geistig abnormen RechtsbrecherInnen“ gegenüber an den Tag legen sollen – wenn nicht die Gefahr, die sie für die Wehrlosen und Schwachen darstellen, für die Frau am Brunnenmarkt und das Kind in München? Können wir es denn unseren Geliebten, Kindern und Kindeskindern gegenüber verantworten, dass man liberal mit Menschen zu verfahren gedenkt, die sich bereits als gefährlich erwiesen haben?

Die Wolfsmaske, die der Mann trug, um seine Identität zu verbergen, erinnert an das berühmte Diktum des neuzeitlichen Philosophen Thomas Hobbes: Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Hobbes war der Ansicht, dass dies der natürliche Zustand des Menschen sei – der nur gebändigt werden könne durch die Existenz eines staatlichen Systems. Letzteres muss durch die Androhung von Strafen dafür sorgen, dass die Menschen noch größere Angst vor ihm haben als voreinander. Nur so kann der wölfische Naturzustand überwunden und in ein Rechtssystem übersetzt werden.

Was aber soll mit jenen passieren, denen auch mit der Angst vor Bestrafung nicht beizukommen ist?

Wenn man nach Aristoteles geht (um keinen Geringeren als den Begründer der politischen Philosophie zu Rate zu ziehen), so sind diese „Unbelehrbaren“ wegzusperren (Nikomachische Ethik 1180 a10). So besehen ist die Politik des österreichischen Maßnahmenvollzugs der letzten Jahre nichts anderes als eine wortgetreue Übernahme abendländischen philosophischen Denkens. Gibt uns die Maske, die der Mann an jenem Tag im Juni trug, nicht Hinweis darauf, dass dies auch weiterhin so bleiben soll?

Das Phänomen psychischer Krankheit macht uns ratlos – und hoffnungslos. Wenn man eines Menschen ansichtig wird, der sich im Delirium befindet, wirres Zeug von sich gibt oder sich vor unseren Augen umbringen will, fühlen wir uns beschämt. Und wahnsinnig hilflos. Und wir empfinden einen gewissen Trost, wenn wir dann sagen, dass es vielleicht einfach keine Hilfe gibt, keine Rettung für diesen Menschen, der da wirr um sich schlägt, der brabbelt und sabbert. Doch: Wenngleich die Geschichte der Psychiatrie und Pharmakologie beileibe keine gewaltfreie und allen Zweifeln erhabene ist (!!!), so erzählt sie doch von einer Entwicklung – und von Hoffnung. Sie erzählt von Menschen, die sich nicht damit abgefunden haben, dass das Schicksal eines Menschen mit der Diagnose einer psychischen Störung besiegelt sei. Es waren Menschen, die sich nicht abgewandt haben und dazu beitrugen, dass sich die Situation psychisch Betroffener zumindest ein wenig gebessert hat.

Vor ein paar Jahren las ich von einem Therapeuten, der es doch tatsächlich vollbrachte, zu Menschen mit Katatonie, einer schlimmen Form von Schizophrenie vorzudringen. Für einen katatonen Stupor ist typisch, dass die Person plötzlich erstarrt; sie ist nicht ansprechbar, wie ein Stein. Der Therapeut blieb nicht bei dem Eindruck stehen, den die KatatonikerInnen auf uns machen. Er fand heraus, dass sich der Stupor lockerte, wenn er zu den Betroffenen sprach und ihnen von der Atmosphäre des Ortes erzählte, an dem sie sich befanden, von den Dingen, die sie sahen und hörten. Er lieferte ihnen gewissermaßen jene Sinnesempfindungen, vor denen der Stupor sie zu verschließen droht. Das Bemerkenswerte an diesem Verfahren ist, dass sich hier jemand nicht von dem ersten Anblick des versteinerten Menschen leiten ließ, sondern von der Hoffnung, einen Zugang zu dem so unzugänglich scheinenden Menschen zu finden.

Was uns das Beispiel dieses Therapeuten, dieses Hoffenden, zeigt, ist zweierlei: (1) Psychische Störungen werden vornehmlich auf einen Stoffwechselvorgang im Gehirn reduziert, der ins Ungleichgewicht geraten ist. Doch es ist nicht die Gabe von Psychopharmaka allein, welche zur Besserung verhelfen kann. Es sind auch die Menschen, die es zustande bringen, einen Kontakt herzustellen, welcher im Falle jeder psychischen Krankheit erschüttert, wenn nicht gar (wie bei der Katatonikerin) fast verloren ist. (2) Die Bedingung der Möglichkeit dieses Kontakts zu dem im Wahn versunkenen Menschen ist, dass man sich dem anderen bereits zugehörig fühlt. Dass man schon ein Miteinander antizipiert, als es dies noch gar nicht gegeben hat – letztlich, dass man die Hoffnung hat, dass dieser Kontakt möglich ist.

Hoffen ist ein sehr interessantes Wort. Denn es meint seiner Etymologie nach das aufgeregte auf und ab Hüpfen, in freudiger Erwartung des Kommenden. Wie aber, wird man fragen, kann man diese Hoffnung gewinnen? Woher nimmt man sie?

Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Idee, oder besser gesagt, einen Verdacht.

Ich denke, dass jene Empfindungen, die uns beschleichen, wenn wir einen Menschen sehen, der im Wahn ist, sehr viele Ähnlichkeiten aufweisen mit dem, was man unter der Empfindung des Ekels zusammenfasst. Ekel fühlen wir dort, wo uns etwas zu nahe kommt. So etwa empfinden wir Ekel vor Insekten oder Reptilien, die schnell und in uns unnatürlich erscheinenden Bewegungen (Schlängeln, Krabbeln, Kriechen) auf uns zu laufen. Ekelhaft ist auch ein unangenehmer Geruch, der uns in die Nase steigt – in uns dringt, obwohl wir das nicht wollen. Der Ekel führt zu einer unmittelbaren, fast instinkthaften Abwehrreaktion. Wir wollen weg.

Ich glaube nun, dass uns der lallende, brabbelnde und sabbernde Psychotiker im wahrsten Sinne des Wortes zu nahe kommt. Er ist nicht nur potenziell aufdringlich, könnte er uns doch beschämen wollen - er ist auch die Versinnbildlichung des Kontrollverlusts und des Verlorenseins, den wir immer zu vermeiden suchen. Nun, was, wenn wir lernten, dieses Schwachsein bei uns selbst nicht zu negieren, was, wenn wir versuchen würden, es als integralen Bestandteil auch unseres Lebens wahr- und anzunehmen? Kämen wir dann nicht besser zurecht mit jenen, die mit der Schwäche in ihrer radikalsten Form leben müssen? Könnten wir dann denn nicht besser sehen, was für ein Leid jene Menschen ertragen (lernen) müssen – und Achtung für sie empfinden? Dass sie tagtäglich kämpfen? Die Herauforderung würdigen, vor der sie stehen? - Dass sie ihre Schwäche ertragen müssen? Wenn wir unsererseits den Gedanken ertragen lernten, dass auch wir vor dieser Möglichkeit nicht gefeit sind (so gerne wir dies auch zur Seite schieben) –  könnte uns das nicht befähigen, diese Nähe auszuhalten statt sie zu fliehen?

Ich glaube, ja. Ich glaube, dass es letztlich diese Hoffnung ist, von der alles abhängt: die Weiterentwicklung der Pharmakologie ebenso wie die der nicht-pharmakologischen Therapien, die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Anstalten und die Findung neuer Strategien für ein gutes Leben – für die „Unbelehrbaren“ wie auch für uns, und ein Miteinander von „uns“ und „ihnen“.

Ich glaube, dass wenn wir Schwachsein als Grundverfasstheit menschlichen Daseins annehmen lernten, wir eher bereit wären, diesen Menschen Hoffnung zu schenken – auch dort, und gerade dort, wo sie unauffindbar zu sein scheint. Und ich glaube, dass diese Hoffnung nicht nur denjenigen geschenkt würde, die aufgrund ihrer Krankheit von der Gesellschaft ausgegrenzt werden - sondern auch uns. Denn auch wir leiden unter dem Ausschluss derer, die sich schwach zeigen (müssen). Wir befinden uns in einem System, in dem Leistung und Erfolg zählen, und es macht uns krank und kaputt. Derweil könnten wir von dieser Schwäche, die sich da zeigt, profitieren, und begreifen, dass die Maßstäbe, an denen wir unser Glück messen, nicht die richtigen sind.

Die Hoffnung ist eine so wichtige Essenz unseres Lebens und Überlebens (wenn nicht gar die wichtigste), dass Menschen, denen die Hoffnung abhandenkommt, nicht mehr an das Leben glauben. Wir leben unser Leben immerzu auf die Zukunft hin. Wem aber dieser Glaube an die Zukunft – und das heißt immer: eine bessere Zukunft – verloren geht, die/der hat nicht mehr viel zu verlieren. Das aktuelle System des Maßnahmenvollzugs leidet insofern schlicht und ergreifend an einem Konstruktionsfehler. Denn es übersieht das, was uns als Menschen ausmacht.

Indes lädt das gegenwärtige System viel zu viele ein, sich der Verzweiflung hinzugeben. Wenn ein Mensch nur einmal im Jahr die Chance hat, sich begutachten zu lassen und die Abfassung von Gutachten tendenziell fahrlässig und ignorant vonstattengeht (und nach wie vor verbindliche Qualitätskriterien für Gutachten fehlen!); wenn die Plätze in den Wohngemeinschaften so wenige sind, dass Menschen, denen bereits eine mindere Gefährlichkeit diagnostiziert wurde, jahrelang in den Anstalten ausharren müssen (obwohl sie eigentlich nicht mehr da sein müssten!); wenn jenen Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit so sehr auf den Kontakt zu anderen angewiesen sind, dieser Kontakt, das wirkliche Erleben eines Miteinanderseins verwehrt wird, um sie stattdessen in der allgemeinen Anspannung und Schrecklichkeit einer Anstalt „unter ihresgleichen“ zu halten, in der sie genauso wie auch wir erschreckt sind über das Leid anderer… Dann habe ich wenig Hoffnung.

Es bedarf nicht viel Einbildungskraft, sich vorzustellen, dass viele glücklicher wären, ein besseres Leben führen könnten, wenn man ihnen die notwendige Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung zuteilwerden ließe. Dies gesagt, kommen wir dennoch nicht umhin, uns zu fragen, wie wir mit jenen verfahren sollen, deren psychische Probleme zum Problem anderer geworden sind. Es gibt darauf keine eindeutige Antwort. Das Problem ist, dass es sich bei dem, womit wir es hier zu tun haben, nicht um einen klaren Gegensatz zwischen einer liberalen und protektionistischen Position handelt. Es geht nicht um ein bloßes Dafür- oder Dagegensein, nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um Schattierungen und um jeweils singuläre Situationen. Es erfordert diejenige Fähigkeit, die Hannah Arendt im Anschluss an Kant als praktische Urteilskraft bezeichnete, welche sich nicht an einer allgemeinen Regel entlanghanteln kann, weil man es mit einem je spezifischen Einzelfall zu tun hat.

Ich denke aber, dass es doch etwas gibt, dass sich allgemein aussagen lässt: Wo und wie wird versucht, den jeweils singulären Menschen zu erkennen und ihm zu begegnen? Ist es denn nicht so, dass wir auf der Suche nach einheitlichen Kriterien für die Aufrechterhaltung der Einweisung (welche enorm wichtig sind) zuweilen vergessen, dass es nicht „Fälle“ sind, mit denen man es da zu tun hat, sondern Menschen? Menschen, die Hoffnung brauchen und Kontakt.

 


[1] Bundesministerium für Justiz, Sicherheitsbericht 2019, S. 155.

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