Über das andere Glück
Einmal im Jahr wird in Form unserer Vorsätze fürs neue Jahr ausdrücklich, was wir vom Glück halten. So, wie die Weihnachtsgeschenke und der Weihnachtsputz auf dem Plan gestanden hatten, das Essen, das zu kochen gewesen war, steht jetzt das Glück auf unserem Plan. Das Glück ist machbar, hat es den Anschein, planbar, es ist das Resultat unseres Tuns und Handelns, unserer Gewohnheiten und der Prioritäten, die wir setzen, insgesamt: der Art und Weise, wie wir unser Leben führen.
Aber was ist das, das Glück? Was ein gelingendes Leben? Wissen wir das wirklich so genau, wie das Umfragen zu Neujahrsvorsätzen nahelegen? Und gesetzt selbst, dem wäre so, warum braucht es sie dann jedes Jahr, diese Neujahrsvorsätze? Weisen die nicht eingehaltenen Versprechungen gegenüber sich selbst nicht vielleicht darauf hin, dass wir uns vielleicht doch nicht so gut auskennen, mit dem Glück? Und dass wir nicht eigentlich auch ein anderes Glück kennen – ein Glück des Augenblicks, der nur sich selbst treu sein muss, und dieses andere Glück ist offenbar, wenn nicht kostbarer, dann mindestens ebenso wichtig wie das Glück, das wir uns vornehmen, das wir planen, uns selbst zu geben?
Dieses andere Glück aber, ist schnell und manchmal kürzer als ein Wimpernschlag, und wie man es noch zu denken versucht, ist es schon wieder weg. Und wenn es langsam ist, dann bemerken wir es meistens auch erst im Nachhinein, wenn es nicht mehr da ist. Was dann bleibt, ist eine schöne und dessentwegen manchmal umso schmerzlichere Erinnerung. An eine Begegnung mit einem Menschen, einen Tag mit einem besonderen Licht, an etwas, das man nicht vorhergesehen hat, nicht geplant hat. Etwas, das hereingebrochen ist, ohne zu fragen und das immer gegangen sein wird, ohne sich zu verabschieden.
Ich sage dies und meine, dass die Frage durchaus zulässig ist, ob wir wirklich begreifen, was das Glück ist, wenn wir in der Struktur des Planens und Wünschens verbleiben.
Schopenhauer sagt, das Streben nach Glück sei angeboren. Angeboren, das fasst er im wortwörtlichen Sinne: Unser ganzes Wesen, sagt Schopenhauer, sei Paraphrase dieses Wollens, unser Leib sein Monogramm – weil wir wesensmäßig danach strebten, unsere Wünsche zu befriedigen, weil wir Wunschwesen sind, immer hungrig und durstig immer Ausschau haltend nach dem, was uns fehlt. Streben, wünschen, hoffen, ersehnen kann man nämlich nur das, was nicht da ist.
Was aber kann man von etwas verstehen, was sich nur in seinem Abwesen erfahrbar macht? Was will man begreifen können von etwas, das unberührbar, unantastbar bleibt? Das sich, wie Hegel sagen würde, in einer schlechten Unendlichkeit entwirft? Weil die Vor-Stellung vom Glück immer Ver-Stellung ist; nicht nur, weil in dem Wünschen und Wollen und Sehnen eine Blindheit gegenüber dem mitangelegt wird, was da ist - hier und jetzt. Sondern auch, weil Vorstellungen zu haben bedeutet, die Zukunft markant zu beschneiden: weil es nie so sein wird, wie man sich das wünscht oder plant, weil Erwartung immer Enttäuschung bedeutet.
Und so stellt sich die Frage, ob nicht ein Vorsatz fürs neue Jahr sein könnte, sich zu wünschen, sich weniger zu wünschen, um diesem anderen, außerplanmäßigen Glück seinen Tribut zu zollen. Nicht mehr zu erwarten, nicht mehr zu warten, sondern zu sehen, was da ist. - Und das nicht, weil Schopenhauer etwa Recht hatte. Schopenhauer dachte nämlich, dass es ein Irrtum sei – eben ein angeborener Irrtum – dass Menschen zum Glücklichsein geboren wären, wo doch die Welt genug Anlass gäbe, sich eines besseren belehren zu lassen, sagt er. Das ist meiner Meinung nach abstrus naiv. Ich glaube, dass Schopenhauer eine falsche Vorstellung vom Glück hatte. Er begreift es nämlich als das Gegenteil vom Unglück, das aber ist falsch. Denn nur in der Abstraktion des Wunsches, der nie auf das Konkrete, Endliche und Augenblickliche abzielen kann, wird das Glück zu dem, als was wir es meistens denken: zum Perfekten, das sich abhebt vom Unreinen, Schiefen, Bitteren und manchmal Traurigen, das in jedem Konkreten lauert, weil jedes Konkrete per se imperfekt ist. Wenn wir Glück versuchen, tatsächlich zu begreifen - und begreifen kann man nur das, was vor einem liegt, was ist da, immer da ist, egal, wo wir sind und wie wir sind, egal wie viel Sport wir machen, wie dünn wir sind, wie schön oder hässlich, - dann werden wir anders beglückt sein, um es mit Rilke zu sagen.
Das will nicht besagen: dass wir uns abwenden vom Glück. Im Gegenteil, ich meine, wir müssten es wirklich in unser Denken zu stellen, in unser Fragen. Wenn wir Glück planen und das tun wir meistens fraglos, wenn wir es zu einem Vorhaben degradieren, wird es immer begriffslos, abstrakt bleiben und wir werden ihm damit nie näherkommen – weil es dann ja schon in der Zukunft ist und die Zukunft, die kommt bekanntlich nie, die bleibt immer Zukunft.
Ich meine, es gälte, das Glück wirklich zu bedenken: wirklich fragen. Uns zu wundern darüber, was das ist, das Glück, ratlos und planlos zu sein, zu stehen und zu staunen, wie es in Rilkes Cornet heißt, sich beglücken zu lassen anstatt auf das ersehnte, erhoffte Glück zu warten.
Eines weiß ich schon, über das Glück. Das hat mich eine Unterhaltung mit einem mir sehr lieben Menschen gelehrt. Wir haben miteinander über das Glück gesprochen. Über das Glück zu reden, nach ihm zu fragen, macht glücklich. Obwohl wir damals nicht viel zu sagen wussten, vom Glück, weil das Denken hier oft weich und flach zu werden droht, war das Glück da. Und das Glück ist auch in dieser - schmerzlichen - Erinnerung: da.
Nachzuhören auf dem Cultural Broadcasting Archive
Die Stoiker haben auch viel über das Glück nachgedacht. Da sie jetzt wieder in aller Munde sind, habe ich dazu eine kleine Einführung aufgenommen, zu finden auf Youtube